Die Corona-Massnahmen haben gerade die Jüngsten unserer Gesellschaft hart getroffen. Zurzeit verzeichnen die psychosomatische Abteilung des Kinderspitals St.Gallen und die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St.Gallen (KJPD St.Gallen) 30 Prozent mehr Patientinnen und Patienten. Je nach Schweregrad der Krise können vier bis sechs Monate vergehen, bis ein Therapieplatz für sie frei wird.
«Komplexe Essstörungen haben in letzter Zeit deutlich zugenommen», sagt Dirk Büchter, Leitender Arzt im Kinderspital St.Gallen. Bis zu zehn Anmeldungen pro Tag sind keine Seltenheit. «Doch auch Zwangsstörungen, Schulabsentismus, Angststörungen und depressive Episoden gehören im Kinderspital zur Tagesordnung. «Getarnt als Bauchschmerzen oder Schlafstörungen sind diese somatischen Beschwerden psychische Probleme und Krisen.»
Psychosomatische Fälle auf falschen Abteilungen
Vor der Coronazeit konnte das Kinderspital intern oder extern innerhalb von zwei Wochen einen geeigneten Therapieplatz finden. Dies ist kaum mehr denkbar. Immerhin: «Bei besonders akuten Fällen konnten wir bis anhin immer eine Lösung finden», sagt Büchter. Befriedigend ist diese nicht immer. «Zum Teil müssen psychosomatische Fälle auf einer somatischen Abteilung im Kinderspital behandelt werden.»
Weiter sagt Büchter: «Tageskliniken für Jugendliche mit schweren Problemen wären dringend gefragt, doch diese gibt es nicht und stationäre Kliniken sind oftmals auch überlastet.»
KJPD St.Gallen passt Aufnahmeprozedere an
Auch bei den KJPD St.Gallen ist der Druck gross: «Wir haben unser Aufnahmeprozedere aufgrund der krisenhaften Zuspitzung der Situation angepasst. Bei psychiatrischen Problemen bieten wir fortan jedem angemeldeten Kind und dessen Eltern in der Region St.Gallen innerhalb von drei bis vier Wochen ein Erstgespräch an», sagt Chefärztin Suzanne Erb. «So können wir differenziert die Dringlichkeit der Situation abklären. Dies kann bereits zu einer ersten Entlastung führen. Danach kann es zu längeren Wartezeiten kommen – bei regulären Anmeldungen von vier bis sechs Monaten.»
«Während der ganzen Krisenzeit haben Notfälle, das heisst Kinder und Jugendliche mit Suizidgedanken oder akuten Erkrankungen, jederzeit sofortige Hilfe bekommen», betont Erb. Doch Kinder und deren Familien mit nicht lebensbedrohlichen, aber sehr belastenden Problemen mussten lange Wartezeiten in Kauf nehmen, dies bestätigen mehrere Betroffene gegenüber FM1Today.
Stress beeinflusst die Hirnentwicklung negativ
Für die zusätzliche Patientenlast dieser beiden Institutionen gibt es kaum kurzfristige Lösungen, denn geeignetes Fachpersonal ist schwierig zu finden, hinzu kommen finanzielle Hürden.
Doch letztlich sind diese langen Wartezeiten zurzeit nur die Spitze des Eisbergs eines tiefer greifenden Problems. Kinderarzt Dirk Büchter befürchtet, dass kaum ist die Krise vorbei, das Problem wieder vergessen wird. Dabei gehe es doch darum, die Probleme bei der Wurzel zu packen. Diese sieht er unter anderem im vielen unnötigen Stress, der Kindern und Jugendlichen zugemutet wird. «Stress beeinflusst die Hirnentwicklung während der Wachstumsphase besonders stark», sagt Büchter. «Und zwar sehr negativ.»
In seinem Alltag sieht der Kinder- und Jugendarzt täglich, wie seine Patientinnen und Patienten unter «Leistungsstress leiden, sie stehen unter Erwartungsdruck, kämpfen mit familiären Problemen, Stichwort Patchwork-Situationen, und dazu kommt der zusätzliche Stressfaktor mit Social Media».
Situation wird sich nicht so schnell bessern
Doch die Gesellschaft, insbesondere die Schule, gebe sich keine Mühe, den Jugendlichen entgegenzukommen. Er nennt das Beispiel, dass Jugendliche wissenschaftlich erwiesenermassen morgens länger schlafen können sollten. «Die Schulen setzen dies einfach grosszügig nicht um.» Dies sind alles Stressfaktoren, die nichts mit Corona zu tun haben. Entsprechend rechnet Büchter auch nicht mit einer raschen Besserung der Krisensituation.
Ähnlich schätzt auch Erb die Lage ein. «Wir können nicht in die Zukunft schauen, aber wir schätzen nicht, dass sich die Situation schnell verbessern wird.» Deshalb wäre es in ihren Augen sinnvoll, niederschwelligere und sogenannte intermediäre Angebote für Familien mit Jugendlichen in problematischen Situationen anzubieten, wie beispielsweise Tageskliniken für Jugendliche und mobile Equipen. Es brauche unter anderem einen grösseren Fokus auf die Prävention. Erb: «Eine psychische Erkrankung zu heilen, ist weitaus schwieriger als sie zu verhindern.»