Fast zwei Jahre sind es her, seit sich das Schweizer Stimmvolk für den Wolf und gegen den Abschuss des Tieres entschieden hat. Eine klare Mehrheit sagte 2020 Nein zum Jagdgesetz. Mittlerweile häufen sich die Schlagzeilen über Wölfe. So riss zum Beispiel kürzlich ein Wolf in Urnäsch eine Ziege oder ein anderer wurde auf der A13 bei Zizers überfahren. Doch wie verbreitet ist der Wolf aktuell wirklich?
Immer mehr Wolfsrisse, aber auch immer mehr Wölfe
Die Zahlen und Fakten sprechen eine deutliche Sprache: In den letzten fünf Jahren hat sich der Wolfsbestand in gewissen Kantonen vervierfacht. Alleine in Graubünden leben zurzeit laut den Behörden mindestens 55 Wölfe, vor fünf Jahren waren es noch 13. Im Kanton St.Gallen will man sich nicht auf eine fixe Zahl festlegen, rechnet aber aktuell mit ungefähr einem Dutzend. Schweizweit dürften es knapp 150 Tiere sein.
«Je mehr Wölfe wir haben, umso mehr Übergriffe gibt es auf Nutztiere», sagt Arno Puorger, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Amt für Jagd und Fischerei Graubünden. Aber diese Tatsache sei nicht die ganze Wahrheit. «Einzelne Wölfe lernen besonders gut dazu und reissen mittlerweile auch grössere Nutztiere, was man vor fünf Jahren noch nicht beobachtet hat.» So seien 2016 in Graubünden noch keine Esel oder Kühe auf dem Speisemenü des heimischen Wolfes gestanden.
Eine Auslegung, die nicht alle so sehen. Gegenüber der «Wolfsspur» sagt David Gerke, Präsident der Gruppe Wolf Schweiz: «Die Terminologie von Behörden und Wolfsgegnern, wonach der Herdenschutz an Wirkung verliere, weil die Wölfe lernen würden, ihn zu umgehen, lässt sich anhand der Zahlen nicht belegen.»
Weiterentwicklung im Naturell des Wolfs
Dass ein Tier immer wieder versucht, seine eigenen Grenzen auszuloten und neue Dinge probiert, liegt in der Natur der Sache. «Aber einzelne Wölfe lernen so schnell dazu, dass sie mittlerweile die empfohlenen Herdenschutzmassnahmen einfach umgehen», sagt der Experte des Bündner Amts für Jagd und Fischerei. Das sei besonders für Landwirte eine äusserst schwierige Situation. «Vor allem bei Schafen und Ziegen braucht es in Zukunft überall Massnahmen.»
Für Herdenschutzmassnahmen spricht sich auch David Gerke von Gruppe Wolf Schweiz aus. Denn die von ihm ermittelten Fakten würden zeigen, dass die absolute Zahl der Risse auf von Herdenschutzhunden geschützten Herden auf sehr tiefem Niveau stabil bis leicht rückläufig sind.
Zukunft für Wolf sieht düster aus
Eine Besserung der Situation im Zusammenleben zwischen Wolf und Mensch ist laut Puorger nicht in Sicht. «In den nächsten Jahren wird der Wolfsbestand sicher noch wachsen und mit ihm die Konflikte», sagt Puorger. Wie viele Tiere es noch werden, sei aber schwer abzuschätzen.
Fakt ist: Die Landwirte in der Region Graubünden stossen jetzt schon an ihre Grenzen. «In gewissen Gebieten ist die Situation für die Landwirtschaft einfach nicht mehr tragbar», so der wissenschaftliche Mitarbeiter des Kantons. Zu gross seien die Verluste und die Folgekosten.
So sieht es übrigens aus, wenn ein Wolf mitten in Speicher spazieren geht:
Quelle: Patrizia Sonderegger
Abschuss als einzige Lösung
In den letzten Jahren galten Herdenschutzmassnahmen, wie zum Beispiel ein Zaun oder ein Wachhund, als sehr effektiv gegen Raubtiere. Mittlerweile habe sich das aber verändert. «Auch der empfohlene Herdenschutz bietet keinen vollen Schutz vor Übergriffen», erklärt Puorger. «Wir als Kanton kommen deshalb an unsere Grenzen.» Denn alleine in diesem Jahr seien schon mehr als 40 Wolfsrisse registriert worden und die Zahl bewege sich damit auf einen neuen Rekord zu.
Aus Sicht des Bündner Experten gibt es nur eine Lösung: «Neben dem konsequenten Herdenschutz braucht es auch den Abschuss, um Tiere aus den Rudeln zu nehmen, die besondere Gefährder sind.» Denn nicht alle Wölfe würden Probleme verursachen, aber einzelne schon. «Am Ende muss die Gesellschaft abwägen, wie viele Wölfe sozial noch tragbar sind.»
(red.)