Ein oranges Kletterseil hängt über dem Rucksack, dessen Schlaufen baumeln bei jedem Schritt, verfangen sich manchmal mit den Riemen des Gürtels, der das Gewicht an Rita Christens Rücken ausgleicht. Der Kopf der obersten Schweizer Bergführerin ist leicht gesenkt, der Fokus gilt dem Wanderweg, auf den die Augen hinter gelblichen Brillengläsern gerichtet sind. Die weisse, markante Brille steht Ton in Ton mit den Haarfransen, die im Wind auf der Stirn tänzeln.
Rita Christen bleibt stehen. Studiert einen ausgedruckten Plan. Schaut sich um. Leichte Furchen bilden sich auf ihrer Stirn, während ihr Gesicht sich etwas zum Himmel neigt. «Da vorne müssen wir auf eine gelbe Markierung am Wegrand achten.» Sie deutet auf einen schmalen Weg, der von der Ebenalp zum Schäfler führt.
Als Primarschülerin die Säntisabfahrt hinunter
Wir sind im Appenzellerland. Der früheren Heimat von Rita Christen. Die 54-Jährige wuchs in Urnäsch als eine von zwei Töchtern des ehemaligen Säntis-Bahnen-Chefs auf. Ihre Eltern kamen für den Job aus der Innerschweiz nach Urnäsch. Mittlerweile hat sich Rita Christen in Disentis niedergelassen – wegen der Liebe, ihr Mann ist Bündner.
«Für mich ist es immer schwierig zu sagen, woher ich komme. Da ich an so vielen unterschiedlichen Orten gelebt habe», sagte Rita Christen zuvor auf der Fahrt mit der Gondel von Wasserauen auf die Ebenalp. Nun, wo wir so über den Seealpsee blicken, markante Felsen sehen, die wie Reihenhäuser aus der Wiese emporsteigen, scheint sie das Heimatgefühl doch noch zu erfassen.
«Es ist schon cheiben schön hier. Ich werde gleich nostalgisch. Dort bin ich jeweils mit meinem Vater mit den Skiern vom Säntis heruntergefahren.» Die Säntisabfahrt habe sie bereits mit zehn Jahren erstmals gemacht. «Das waren aber noch alte, untaillierte Ski. Heute unvorstellbar. Mit den modernen Skiern ist Tiefschneefahren viel einfacher und genussvoller.»
Kinderwunsch und Karriere
Obwohl Rita Christen in den Bergen aufwuchs, fand sie erst spät zum Bergsteigen. Die Bergführer-Ausbildung absolvierte sie vor rund 20 Jahren Anfang 30. «Ich habe zuvor Jura studiert, wollte eigentlich in der Entwicklungszusammenarbeit oder der Diplomatie um die Welt reisen. Doch dann habe ich meinen Mann kennengelernt und einen anderen Weg eingeschlagen.» Gemeinsam mit ihrem Mann absolvierte sie die Bergführer-Ausbildung. «Ich bin ein Mensch, der Herausforderungen liebt, deshalb brauchte ich etwas Neues, worauf ich mich konzentrieren konnte.»
Rita Christen war auch als Bergführerin tätig, während sie vier Jahre nach der Ausbildung mit ihrem ersten Sohn schwanger war – in der zweiten Schwangerschaft sogar noch im siebten Monat. Sie erinnert sich aber an das Hadern rund um die Entscheidung über den Zeitpunkt der Schwangerschaft. «Die Jahre zwischen 30 und 40 waren nicht einfach. Ich war glücklich in meinen beiden Berufen und habe es genossen, viel Freiheit zu haben. Ich hätte gerne noch zehn Jahre so weitergelebt.» Sie beschreibt die Schwierigkeit, den Bergführerberuf mit einem Familienleben zu kombinieren als möglichen Grund, weshalb nur rund drei Prozent der Bergführenden weiblich sind.
Nebst der Tätigkeit als Bergführerin arbeitete Rita Christen auch stets als Juristin. Aktuell arbeitet sie 30 Prozent als Bergführerin, 70 Prozent als Gerichtsschreiberin in Chur und macht zusätzlich noch diverse Aufgaben im Rahmen ihres Präsidiums des Bergführerverbands. Auch zur Yoga-Lehrerin hat sich Rita Christen ausbilden lassen.
«Ich habe mich stets gut organisiert, habe jemanden angestellt für den Haushalt und die Betreuung der Kinder, so konnte ich auch nach der Geburt der beiden Söhne recht viel als Bergführerin unterwegs sein.» So habe sie sich nicht gross einschränken müssen. «Auch privat ging ich weiterhin viel in die Berge, oft mit meinem Mann und unterdessen kommen auch die Söhne manchmal mit, was ich super schön finde.»
«Diesen Sturz werde ich nie vergessen»
Von schlimmen Unfällen blieb die Frau mit den vielen Berufen «zum Glück» bisher verschont. «Die Vorstellung, selber zu verunfallen, ist nicht schlimm für mich. Ich vertraue auf mein Können und meine Erfahrung und bin sowieso ein optimistischer Typ. Ein schwerer Unfall eines Gastes hingegen ist eine Schreckensvision, als Bergführerin bin ich deshalb meist viel defensiver als beim privaten Bergsteigen.» Ihr Mann hatte zwei schwere Unfälle. Einmal mit dem Gleitschirm, einmal beim Klettern, als ein Stück Fels nicht hielt. «Er hat sich zum Glück vollständig erholt und ist wieder viel und gerne in den Bergen unterwegs – ohne Angst.»
Auch Rita Christen wurde durch die Vorfälle nicht ängstlicher. Es gibt aber einen anderen Moment, der sich in ihr Gedächtnis gebrannt hat: «Ich musste in einer Wand miterleben, wie ein Mann rund 40 Meter in die Tiefe stürzte.» Er sei über ihr in einer anderen Seilschaft geklettert, gestürzt und im Fallen seien alle Selbstsicherungen rausgerissen worden. «Das war schlimm. Er schlug immer wieder auf der Wand auf und blieb dann rund 15 Meter von mir entfernt reglos im Seil hängen.» Rita Christen half bei der Rettung und zum Glück habe der Mann überlebt.
Wir stehen mittlerweile vor einer Felswand. Silbern glänzen die einzelnen Bohrhaken im Sonnenlicht – zeichnen den Weg zum Felsrand wie eine Art Milchstrasse am Nachthimmel. Auf kleinen Plättchen stehen Namen und Schwierigkeit der Route. Mit dem Finger fährt Rita Christen auf ihrem gefalteten Plan die gezeichneten Linien am Felsen ab, flüstert Zahlen und Buchstaben, nickt oder schüttelt den Kopf. Wir entscheiden uns für eine «einfache, aber schöne Route». Die 54-Jährige faltet das Seil zu einer Acht, verknotet es mit ihrem «Gstältli» kontrolliert Knöpfe, Riemen und Sicherungsgeräte und zwängt sich schliesslich in die Kletterschuhe, die ihre Füsse wie ein Vakuum umschliessen.
Ihr blau-oranger Helm ist gekennzeichnet von den vielen Touren – vorne am Rand hält silbernes Klebeband die Teile zusammen. Geschickt wie eine Eidechse klettert die zweifache Mutter die Wand hoch und hängt an den einzelnen Bohrhacken das Seil ein. «Stand», ruft sie oben angekommen und geniesst die Aussicht in alle Richtungen. Wieder auf dem Boden strahlt ihr Lächeln eine tiefe Zufriedenheit aus: «Wunderschön, dieser Alpstein.»
TVO-Beitrag vom 26. Juni 2021
Quelle: tvo
«Gleitschirmfliegen ist mir zu langweilig»
Nur wenige Menschen sind an diesem Freitagnachmittag im Juni auf der Ebenalp. Das ist nicht immer so: «Ich beobachte, dass immer mehr Menschen in den Bergen unterwegs sind vor allem während Corona vergangenen Sommer. Gut daran ist, dass immer mehr Leute erleben, wie erholsam und intensiv Bergsport ist und so einen guten Ausgleich zu ihrem Alltag erleben. Schlecht ist natürlich, wenn es Rummel und Stress gibt.» Auf die Situation am Mount Everest angesprochen, wo sich teilweise eine Menschenkette bis zum Gipfel hochzieht, schüttelt die Bergführerin nur den Kopf. «Bei solchen Bildern löscht es mir ab. Das ist nicht das, was ich beim Bergsteigen will.»
Andere Wege entdecken, fernab der Hot-Spots und vor der Haustüre, darauf werde deshalb in der Bergführer-Ausbildung grossen Wert gelegt. «Die Schweiz ist genial, es gibt unendliche Möglichkeiten für verschiedenste Bergabenteuer.»
Auch wir haben mittlerweile den Wanderweg verlassen. Laufen durch knöchelhohes Gras zurück zur Ebenalpbahn, beobachten, wie Gleitschirmflieger sich zum Starten bereit machen. Es überrascht nicht, dass Rita Christen auch das ausprobiert hat: «Es war mir aber zu langweilig, in der Luft hast du nichts zu tun.» Sie lächelt, ihr Helm hält die nunmehr nur noch leicht tänzelnden Fransen im Zaun. Ungebändigt ist ihr Anspruch auf Abenteuer, der sich wie ein roter Faden – oder in diesem Fall ein oranges Seil – durch ihr Leben zieht.
TVO-Beitrag vom 27. Juni 2021:
Quelle: tvo