Der 49-jährige Hansruedi Rechsteiner aus Herisau ist im Oktober 2020 an Covid-19 erkrankt und leidet heute noch unter den Folgen der Krankheit. Er hatte keine Vorerkrankungen. Rechsteiner wohnt in Herisau, hat drei Kinder, war früher 20 Jahre lang Aktivschwinger, spielte bis zur Infektion wöchentlich Tennis, ging biken und skifahren.
Er ist in der Verwaltung für die Raumnutzung zuständig. In dieser Funktion sitzt er selten am Computer, sondern arbeitet körperlich. Er richtet Räume für Anlässe mit bis zu 300 Personen ein – Stühle heben, Tische aufstellen. Seinen Job kann er heute nicht mehr im gleichen Umfang ausführen, wie er das früher tat.
FM1Today: Hansruedi Rechsteiner, sie haben sich im Oktober 2020 mit dem Coronavirus angesteckt. Wissen sie, wie es passiert ist?
Ja. Ich war mit Kollegen in einer Landbeiz. Wir waren zu zehnt dort und haben gegessen und getrunken. Es war alles noch legal. Schliesslich sind dann vier von uns erkrankt.
Wie hat sich die Krankheit bei ihnen unmittelbar gezeigt?
Nach ein paar Tagen habe ich plötzlich starkes Fieber und Gliederschmerzen bekommen. Morgens konnte ich kaum mehr aufstehen, ich war kaputt. So krank war ich noch nie. Ich habe innert kürzester Zeit zehn Kilo abgenommen. Ich war «fladenflach».
Sie sind aber zu Hause geblieben und mussten sich nicht im Spital behandeln lassen?
Nein, im Spital war ich nie. Das kam auch nie zur Sprache. Ich bin einfach nur gelegen, gelegen, gelegen.
Haben sie irgendwann das Gefühl gehabt, dass es vorbei ist? Oder haben sie von Anfang an gemerkt, dass da etwas ist, was länger bleibt?
Dass es so kommt, hätte ich nie gedacht. Dass dieses Virus ausgerechnet meinen Körper dermassen über den Haufen wirft, habe ich nicht erwartet. Ich bin wieder zur Arbeit gegangen, war aber sehr müde. Das Treppensteigen fiel mir schwer, ich musste immer wieder Pausen machen. Einmal musste ich rennen, um den Bus zu erwischen. Doch nach kurzer Zeit hatte ich ein solch starkes Stechen in der Brust, dass ich stoppen musste. Gliederschmerzen hatte ich zwar keine mehr, aber der «Pfuus» fehlte mir.
Wann wussten sie, dass sie Long Covid haben?
Die Beschwerden kamen schleichend wieder und es wurde immer schlimmer. An Weihnachten ging gar nichts mehr. Ich schlief nachts nicht mehr und eines Morgens sass ich auf dem Bettrand und dachte: «Und jetzt? Wie stehe ich auf?» Ich ging daraufhin zuerst zu einem Naturarzt, doch der sagte: «Geh zur Schulmedizin – das gibt eine lange Geschichte.» Ich dachte damals, das ginge einen Monat und dann käme ich schon wieder. Nach dem Aufstehen war alles schwierig: Duschen, Deo auftragen, Brot schneiden. Alles tat mir weh.
In welchen Alltagssituationen bemerken sie heute ihre Energielosigkeit am meisten?
Morgens, wenn ich aufstehe, fühlt sich eigentlich alles gut an. Doch wenn der Körper in eine Überbelastung – ich nenne es eine Überbelastung auf tiefem Niveau – kommt, dann wird es schwierig. Es ist mittlerweile normal, dass ich mich mittags kurz hinlege, um die Muskeln lockern zu können. Dann geht es wieder. Im Verlaufe des Nachmittags kehren das Ziehen im Kopf, die Muskelverspannungen und ein diffuses Brennen im Körper zurück. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich musste im Kopf umstellen. Heute lebe ich damit und freue mich über all die Dinge, die wieder funktionieren. Es ist sicher nicht mehr so schlimm wie noch vor einem halben Jahr.
Wie verlief die Besserung?
Ich war nie in der Reha. Doch machte ich Physiotherapie und Akupunktur und hatte mit der Schulmedizin eine gute Betreuung. Ohne Medikamente wäre es zudem nicht auszuhalten gewesen. Auch mein Naturarzt hat mir sehr geholfen und war oft zur Stelle mit guten Gesprächen.
Sie sind im Job jemand, der anpackt. Sie sind in der Verwaltung für die Raumnutzung zuständig und hieven auch mal Tische und Stühle. Sie arbeiten also viel mit den Händen. Wie hat sich die Arbeit verändert?
Ich habe einen sehr kulanten Arbeitgeber. Auch ein Kollege unterstützt mich jeweils dann, wenn es strenger wird. Wenn es anfängt zu brennen und zu ziehen, sage ich: «Du, ich mach lieber die Büroarbeit, mach du das.» So können wir jeweils gemeinsam abwägen.
Was vermissen sie am meisten an ihrem alten Leben?
Früher habe ich gerne Hilfe angeboten und gesagt: «Komm, ich mach noch schnell.» Heute muss ich erst auf meinen Körper hören und dann schauen. Oder in der Freizeit vermisse ich meine Energie: Als ich früher mit meiner Frau in den Bergen unterwegs war, ging ich meistens zehn Schritte vor ihr, weil ich gerne schneller gelaufen bin. Heute bin ich derjenige, der zehn Schritte hinter ihr läuft. Und: Heute sind mir Wanderstöcke eine grosse Hilfe, früher brauchte ich sie nicht.
Wie haben sie gelernt, mit der Situation umzugehen?
Ich war eigentlich nie jemand, der verzweifelt war. Ich dachte mir stets: Das kommt schon wieder gut. Insgesamt war ich mindestens vier Monate nicht arbeitsfähig und zu Hause. Das war hart, doch ich erfreute mich ob kleiner Dinge: Ich nahm mir zum Beispiel vor, Glas entsorgen zu gehen. Das klingt jetzt komisch, ich weiss. Doch es war mir erst jetzt wieder möglich, ein Fläschlein einzuwerfen. Das hätte ich im Februar noch nicht gekonnt. Heute lache ich darüber, doch damals war das ein grosses Erfolgserlebnis.
Was dachten sie über Corona, bevor sie krank geworden sind?
Dass es mich dermassen aus der Bahn werfen würde, hätte ich wirklich nicht gedacht. Wir nahmen die Krankheit in der Familie natürlich ernst. Am schwierigsten neben den Schmerzen ist die Ungewissheit – was kommt wieder und was bleibt?
Was denken sie, wenn sie hören: «Corona ist ja nur eine harmlose Grippe»?
Mit dem, was ich erlebt habe? Unbegreiflich. Aber ich denke, der Mensch ist so. Vieles muss er erst erleben. Erst dann denkt er vielleicht anders.
Das Interview führte FM1-Moderator Felix Unholz.
(saz)