«Ich war schockiert und traurig zugleich», erzählte S.C., die seit 23 Jahren in der Wohnung lebt. Im September erhielten die 16 Mietparteien eines Wohnblocks im thurgauischen Rickenbach einen eingeschriebenen Brief. «Aufgrund des Alters und Zustands des Mehrfamilienhauses haben sich die Verwaltung zusammen mit der Eigentümerschaft Gedanken über die zukünftige Entwicklung gemacht [...] und übermitteln die Kündigung auf Ende September 2024», teilt die Verwaltung in der Kündigung mit, welche der Redaktion vorliegt. Der Grund ist eine Totalsanierung.
S.C. hatte nur durch Erzählungen von solchen Kündigungen gehört, aber selbst war sie nie betroffen: «Es ist nicht mehr selten, dass ältere Wohnungen saniert werden. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich nicht nur eine neue Wohnung, sondern auch eine neue Umgebung und somit auch eine neue Nachbarschaft finden muss.»
Da S.C. allein lebt, erzählte sie, wie wertvoll eine langjährige Nachbarschaft ist. «Nun, eine Wohnung in der Umgebung zu finden, ist wirklich eine grosse Herausforderung. Ich hatte auch das Glück, dass mein Mietpreis in den letzten 23 Jahren günstig war. Und das finde ich beim besten Willen nicht mehr.»
Zwei Zimmer weniger und 400 Franken mehr Miete
Betroffene sind so gezwungen, eine neue Bleibe zu finden. So ging es auch einem alten Ehepaar, das seit der Blockgründung dort lebt.
Weinend erzählt die 83-Jährige: «Ich bin nicht wütend, einfach nur traurig, da ich in diesen 40 Jahren nicht nur eine gute Nachbarschaft, sondern auch Freundschaften aufgebaut habe.» Sie und ihr Ehemann verstehen, dass der Eigentümer seine Gründe hat, weshalb er so handelt. Jedoch erlebten die beiden mit der Kündigung eine sehr intensive Zeit:
«Die Wohnungssuche war für uns sehr belastend, gerade weil wir ein altes Ehepaar sind. Bei der Wohnungssuche fragten sie uns, ob wir auch wirklich das Geld dazu haben, die Wohnung zu finanzieren. So zeigten wir unsere Bankbelege und auch, was wir von der Pensionskasse erhalten. Schlussendlich musste mein Schwiegersohn für uns unterschreiben, um der neuen Verwaltung die Sicherheit zu geben. Wir hätten sonst wahrscheinlich mit einer weiteren Absage rechnen müssen.» Nun müssen die beiden von einer 4.5- in eine 2.5-Zimmer-Wohnung ziehen und dabei rund 400 Franken mehr bezahlen.
Steigende Mietpreise
«Das ist leider ein grundsätzliches Problem», teilt Thomas Schwager vom Ostschweizer Mietverband mit. In den letzten 20 Jahren hätten alle Mieten aufgrund der laufend sinkenden Zinsen, regelmässig gesenkt werden müssen.
«Das war leider in den meisten Fällen nicht so. Die Mieten haben sich um rund 20 Prozent erhöht», ergänzt Schwager. Doch jetzt, bei steigenden Zinsen, steigen auch die Mieten rasant weiter. «Aktuell läuft ein Angriff auf das Mietrecht. Der Kündigungsschutz soll aufgeweicht werden. Einerseits bei Eigenbedarf, andererseits bei Untermiete.» Der Mieterinnen- und Mieterverband Schweiz (MV) hat zwei Referenden eingereicht, abgestimmt wird voraussichtlich im Herbst.
Im Video wird erklärt, dass die Mieten trotz tiefen Zinsen nie gesenkt wurden:
«Wir mussten beim Vermieter betteln»
Eine Familie mit zwei kleinen Kindern nahm das Schreiben schockiert zur Kenntnis. «Den Wohnort darf ich auf keinen Fall wechseln. Meine Kleine geht jetzt zur Schule und sie hat ihre ganzen Freunde da gefunden.» Die junge Mutter sieht nicht allein die Kündigung als Hindernis, sondern: «Wir sind nicht die Einzigen, die betroffen sind. Wenn auf dem Markt mal eine Wohnung frei war, haben sich alle darauf gestürzt. Wir lebten ständig mit diesem Druck. Deshalb haben wir beim neuen Vermieter gebettelt, damit wir die Wohnung bekommen.»
Die Familie war lange nicht sicher, ob sie bis zur Frist eine neue Wohnung finden würden. Darauf meldeten sie sich bei der Schlichtungsstelle. Diese wollte im Rahmen eines Gesprächs mit dem Hauseigentümer eine Fristverlängerung erwirken. Der Vermieter blockte jedoch ab. Die Begründung: Die Familie hätte genug Zeit für die Wohnungssuche gehabt.
Kündigungen nicht in allen Fällen akzeptieren
Ein Forschungsteam geht der Entmietung seit 2017 nach und beobachten eine Zunahme der Gentrifizierung (Aufwertungen in Form von Sanierungen). Im Forschungsteam mit dabei ist Miriam Meuth. Im Interview mit dem Magazin «Mieten + Wohnen» sagte sie, dass in den letzten Jahren Massenkündigungen von Mietverhältnissen innerhalb ganzer Siedlungen zugenommen hätten. «Die Betroffenen sind gezwungen, eine neue Wohnung zu suchen. Ungeachtet dessen, wo sie im Leben gerade stehen, kommt eine enorme zusätzliche Belastung auf sie zu. Und sie werden ziemlich sicher keine Wohnung zum bisherigen Mietpreis finden.»
Thomas Schwager vom Mieterinnen- und Mieterverband Ostschweiz rät gerade bei Massenkündigungen: «Sind mehrere Mietende in der gleichen Liegenschaft betroffen, ist ein gemeinsames Vorgehen sinnvoll. Um gegen eine Kündigung vorzugehen, hat man nach Eingang der Kündigung nur 30 Tage Zeit. Sofortiges Handeln ist ganz besonders wichtig.» Gerade Familien, die nicht sofort eine Anschlusslösung finden, können so etwas mehr Zeit gewinnen.
Mietende wissen nie, ob ihre neue Wohnung als nächstes saniert wird
A.C., die ebenfalls im betroffenen Block in Rickenbach wohnt, erlebt dieses Szenario schon zum zweiten Mal. Bei Mietbeginn fragte sie deshalb extra nach, ob eine Renovation in den nächsten Jahren geplant sei. A.C. betonte: «Die Verwaltung hat meine Anfrage mit Nein beantwortet. Dass es jetzt doch anders kommt, hat mich schon sehr getroffen. Aber es ist nun mal, wie es ist.»
Die Mietenden im Block müssen nicht nur eine neue Wohnung finden, sondern mit der Unsicherheit leben, dass auch das neue Zuhause luxussaniert oder abgerissen werden könnte. So wie es A.C. nun schon mehrmals erlebt hatte. Oder die Familie mit zwei Kindern, die für die neue Wohnung 400 Franken mehr bezahlt. Auf die Frage, wie sie das finanziell machen werde, antwortet sie: «Ich werde aufstocken und einen Tag mehr arbeiten müssen.»
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