Die Eröffnung der Privatschule in Uznach mit möglichem Bezug zur Anastasia-Bewegung sorgt in den vergangenen Tagen für Aufsehen. Einen Überblick zum Fall gibt es hier.
Susanne Schaaf, kann man bei der Anastasia-Bewegung von einer Sekte sprechen?
Susanne Schaaf: Wir versuchen grundsätzlich, das Label «Sekte» zu vermeiden, weil es die Vorstellung eines Prototyps beinhaltet und eine einfache Einteilung in „Sekte, gefährlich“ versus „keine Sekte, unbedenklich“ suggeriert. Die Realität im Weltanschauungsmarkt zeigt aber, dass die Gruppen sehr unterschiedlich unterwegs sind. Daher ist es sinnvoll zu prüfen, ob gewisse sektentypische Merkmale und Konfliktfelder vorhanden sind. Je ausgeprägter diese sind, desto problematischer ist die Gruppe oder das Netzwerk. Und eine gewisse Sektenhaftigkeit ist bei Anastasia vorhanden.
Welche Merkmale sind denn an Anastasia besonders problematisch?
Bereits die Grundlagen beinhalten bei Anastasia antisemitische Züge und Haltungen. Auch der schleichende Übergang zwischen Naturromantik hin zu einer völkischen Ideologie ist problematisch. Die Art und Weise, wie diese Ansichten vertreten werden, haben das Potenzial, dass sich Menschen radikalisieren können. Auch die propagierte zurückgezogene, selbstversorgerische Lebensweise ist schwierig, weil das Risiko einer Abkapselung besteht. Die Menschen können den Austausch mit ihrem Umfeld verlieren und sich in ihr System mit eigener Logik zurückziehen.
Das Anastasia-Konzept wird von Experten als besonders anschlussfähig bezeichnet. Was heisst das genau?
Die Anastasia-Welt spricht verschiedene Zielgruppen an. Es gibt Menschen, die einfach die Bücher von Wladimir Megre gerne lesen, die das Naturverbundene mögen. Dann gibt es Anhänger des Bildungsansatzes. Und dann gibt es eben auch Anknüpfpunkte für Rechtsextreme und Reichsbürger. Die Grenzen können fliessend sein.
Wie eng ist denn der Zusammenhang zwischen der Schetinin-Pädagogik und der Anastasia-Bewegung?
Der Zusammenhang besteht. Die Schetinin-Schule und die Anastasia-Bewegung beziehen sich immer wieder aufeinander.
Der Mieter der Schulräumlichkeiten in Uznach befürwortet die Schetinin-Pädagogik, wie er gegenüber der «WOZ» sagte. Er streitet jedoch ab, eine Verbindung zur Anastasia-Bewegung zu haben, geschweige denn, diese überhaupt zu kennen. Ist das glaubwürdig?
Wenn der Initiator der Privatschule Schetinin-begeistert ist und sagt, dass er Anastasia nicht einmal kenne, dann ist das für mich schon speziell. Sobald man zur Schetinin-Schule ernsthaft recherchiert, stösst man auch auf die Anastasia-Bewegung. In den Anastasia-Büchern wird die Schetinin-Schule in Tekos im Kaukasus immer wieder als Vorbild genannt. Michail Schetinin war Megre-Anhänger.
Besteht im Fall Uznach das Risiko einer problematischen Entwicklung?
Das Risikopotenzial besteht. Man kann aber natürlich nicht jetzt schon einer Lehrperson unterstellen, dass sie im Unterricht bestimmte problematische Dinge tut oder sagt. Ich frage mich aber schon, ob die psychologische und religiöse Integrität der Kinder genügend gewährleistet ist.
Die Anastasia-Bewegung breitet sich in den vergangenen Jahren aus, vor allem in Deutschland, aber auch in der Schweiz. Wo sehen sie die Gründe dafür?
Ich denke, es geht um diese Vorstellung von «zurück zur Natur», im Einklang mit der Natur leben, einfach und gesundheitsbewusst leben, romantisch und utopisch. Und in einem spirituellen Kontext eingebettet. Auch die Unabhängigkeit mag eine Rolle spielen – das Gefühl, etwas selbst zu gestalten und unabhängig von staatlichen Vorgaben zu leben, Stichwort Individualisierung. Möglicherweise spielt auch die Corona-Pandemie eine Rolle, die den Leuten einen temporären Rückzug auferzwungen hat. Bei manchem mag die Zurückgezogenheit trotz aller Probleme eine Neuorientierung ausgelöst haben. Solche Gefühle können von der Anastasia-Ideologie angesprochen werden.