Ostschweiz
Graubünden

Kokainabgabe und Konsumraum in Chur: Ideen um den Drogenkonsum

Chur

Kann eine kontrollierte Kokain-Abgabe die Drogenszene beruhigen?

· Online seit 22.10.2024, 17:46 Uhr
Die Stadt Chur gilt als Drogen-Hotspot und sorgt für hitzige Diskussionen. Neue Zahlen zeigen, dass die Kokain- und Crack-Flut in der Schweiz einen Höchststand erreicht. Jetzt wird eine kontrollierte Kokain-Abgabe untersucht.
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Die stimulierende Wirkung von Kokain ist sehr heftig, gleichzeitig aber nur von kurzer Dauer. Wenn die euphorischen Gefühle abklingen, kann das Verlangen nach einer weiteren Dosis zwanghaft werden. Immer mehr bekommen das Verlangen, sich eine weitere Dosis zu geben. «Wir müssen leider davon ausgehen, dass sich in Chur nach Genf die zweitgrösste offene Drogenszene der Schweiz befindet», erklärt Stadtrat Patrik Degiacomi.

Der genaue Umfang des Kokainkonsums in Chur sei schwer zu bestimmen, doch man wisse, dass nur ein Teil davon auf Menschen mit Suchterkrankungen in der offenen Drogenszene zurückzuführen sei. Diese Szene umfasse rund 150 Personen, von denen etwa 80 Prozent auf Kokain basierende Substanzen konsumieren.

Was in Chur deutlich sichtbar wird, ist ein landesweites Phänomen. Die Schweiz befindet sich laut aktuellen Daten des Bundes mitten in einer Kokain-Epidemie, die sich auch auf verwandte Substanzen ausweitet. Seit Sommer 2022 sind die Herausforderungen im Zusammenhang mit der offenen Drogenszene im Stadtgarten und auf dem gesamten Stadtgebiet Chur noch einmal erheblich gestiegen.

Schweiz in der Pionierrolle?

Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, Kokain gezielt an Menschen mit Abhängigkeit abzugeben. Im Gegensatz zu Heroin hat bislang noch kein Land diesen Schritt gewagt, weshalb der Suchtkommission kein ausgereiftes Konzept vorliegt. Doch angesichts der aktuellen Entwicklungen hält sie es für notwendig, diesen Ansatz nun zu erproben.

Angesichts der Lage in Chur hätte eine solche Abgabestelle für die Stadt grosses Potenzial: «Wir nehmen mit grosser Besorgnis eine schnelle Verwahrlosung und insbesondere stark steigende Obdachlosigkeit der betroffenen Personen zur Kenntnis und deshalb sehen wir darin gute Chancen», so Degiacomi. Denn die Situation sei alarmierend. Der gesundheitliche Zustand der Betroffenen und ihre Lebenssituation verschlechtern sich in hohem Tempo und werden von der mittlerweile kantonalen aufsuchenden Sozialarbeit «Streetwork» als prekär bezeichnet. Das zeigt sich auch an der gestiegenen Zahl der Personen ohne geregelte Wohnsituation.

Stadt vertraut auf Erfahrungen aus der Heroin-Szene 

«Wir haben den Ausführungen von Experten entnommen, dass eine kontrollierte Abgabe von kokainbasierten Substanzen durchaus prüfenswert wäre. Der Erfolg der Einführung der kontrollierten heroingestützten Behandlung (Abgabe) könnte allenfalls – mindestens teilweise – auf Konsumentinnen und Konsumenten von kokainbasierten Substanzen übertragen lassen», sagt Degicomi. Die heroingestützte Behandlung wird in Graubünden seit bald 30 Jahren im Auftrag des Kantons durch die Psychiatrischen Dienste Graubünden durchgeführt.

Gemäss Bericht des Bundes aus dem Jahr 2021 waren folgende positiven Auswirkungen durch diese Massnahmen zu verzeichnen:

  • starke Reduktion der Drogentodesfälle
  • erheblicher Rückgang der HIV-Ansteckungen
  • höhere Lebenserwartung
  • soziale Stabilisierung
  • deutlicher Rückgang der Beschaffungskriminalität
  • Beruhigung im öffentlichen Raum, durch Auflösung der offenen Drogenszenen

«Es handelt sich nicht um eine konkrete Massnahme»

Degiacomi hebt hervor, dass solche Projekte streng reguliert und wissenschaftlich überwacht werden müssten. Solche Programme könnten dazu beitragen, den Drogenhandel und die damit verbundene Beschaffungskriminalität zu verringern. «Doch zu verstehen ist, es handelt sich nicht um eine aktuelle und konkrete Massnahme der Stadt Chur. Wir sehen jedoch Potenzial darin und würden es begrüssen, wenn der Bund wissenschaftlich begleitete Pilotversuche ermöglichen und sich der Kanton daran mit städtischer Unterstützung beteiligen würde.»

Auch Christian Schneider, Vizepräsident der Eidgenössischen Kommission für Fragen zu Sucht und Prävention nicht übertragbarer Krankheiten EKSN sieht Handlungsbedarf, denn er erwartet, dass die Schweiz noch länger mit dieser Problematik zu kämpfen haben wird, wie er bereits im Juni in einem Interview sagte. Die Kommission fordert daher, Lösungen zu finden, um grössere Drogenszenen zu verhindern: «Wir stellen die Möglichkeit in den Raum, schwerstabhängigen Crack-Konsumierenden Kokain kontrolliert abzugeben, um den Teufelskreis zu durchbrechen.» Dabei sei klar, dass Kokainabgabe Risiken birgt. «Auch wir würden nicht vorschlagen, Kokain mit vollen Händen einfach abzugeben», sagte Schneider gegenüber «swissinfo». Ohne ein konkretes Modell vorzuschlagen, fände er es wichtig, Erfahrungen zu sammeln.

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Kokain bringt Hürden mit sich

Margreth Meier, Betriebsleiterin des Ambulatoriums Neumühle, äussert sich gegenüber der «Südostschweiz» zur Idee einer kontrollierten Kokainabgabestelle: «Derzeit wird Kokain vor allem in Form von Crack geraucht.» Für eine kontrollierte Abgabe müsse zunächst ein Präparat entwickelt werden, das offiziell hergestellt und vertrieben werden kann. «Zudem muss die Substanz für die suchtkranken Kokainkonsumierenden den gewünschten Effekt erzielen.» Die Betroffenen stünden unter immensem Suchtdruck, da die Wirkung von Kokain innerhalb weniger Minuten nachlasse und das starke Verlangen, erneut zu konsumieren, schnell wieder einsetze. «Für eine kontrollierte Abgabe wären daher nach heutigem Stand grosse Mengen erforderlich.»

Konsumraum für erste Erfolge 

Es sei aber keinesfalls die Idee, dass die Stadt Chur das Projekt selbst angehe. «Und ein solcher Versuch würde auch nicht im angedachten Konsumraum stattfinden, sondern dafür bräuchte es eigene Örtlichkeiten», denn in einem Konsumraum würden nie Substanzen abgegeben, sagt Degiacomi.

Die ersten Massnahmen erfolgen bereits. Die Stadt Chur möchte einen betreuten Konsumraum von fast vier Millionen Franken ins Leben rufen. Dieser wurde von der Churer Bevölkerung im Juni angenommen. Im geschützten Rahmen sollen die Drogensüchtigen konsumieren dürfen und zugleich soll es die Situation auf den Strassen Churs verbessern. Bisher galt der mögliche Konsumraum an der Sägenstrasse 75 als die einzige realistische Option. Doch er sorgte in der Vergangenheit bereits für Diskussionen, da der Raum sich in einem Wohnquartier befinden würde. Anwohnerinnen und Anwohner sammelten Unterschriften, und zwar nicht gegen die Realisation eines Konsumraums, sondern wegen des Standortes. Doch nun gibt es eine zweite Möglichkeit. Welches Gebäude konkret gemeint ist, wollte Stadtrat Degiacomi nicht kommentieren und verwies auf eine Medienkonferenz, die am Mittwoch stattfinden soll.

veröffentlicht: 22. Oktober 2024 17:46
aktualisiert: 22. Oktober 2024 17:46
Quelle: FM1Today

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