Das erste Kribbeln verspürte ich als Teenager. Gleis 2. 7.28 Uhr. Wattwil. Dort habe ich dich in der Lehre regelmässig bestiegen und du hast mich mitgenommen auf einen wilden Ritt bis nach St.Gallen. Ich erinnere mich an Zigarettenrauch, an Panoramabilder auf der Zugstoilette und an die farbigen Comic-Karten, die in jedem Abteil die einzelnen Stationen deiner Fahrt anzeigten.
An Fluchen. Viel Fluchen – weil du dich verspätet oder mich ganz versetzt hast und weil deine Art und Weise in Fahrt zu kommen, mir dann manchmal doch etwas zu holprig und unbeholfen schien. Ich fluchte nach dem gefühlt hundertsten «Hallo» oder «Hä?», die ich ins Sony Ericsson brüllte. Diese abgehackten Telefonate führte ich fast täglich, obwohl ich wusste, dass der Empfang zwischen Wattwil und Herisau zu wünschen übrig liess.
Du hast mich durch die Jugend- und später 20er-Jahre getragen – mich zwar spüren lassen, dass es dich gibt, dich aber nie aufgezwungen. Es gab immer Alternativen, jetzt aber bist du die einzige aller Lokomotiven, an die ich mein Herz verloren habe. Ich bevorZUGe dich. Deshalb sind meine Sitzungen mit dir heute ausgiebiger, länger und persönlicher (nicht die auf der Zugstoilette!).
Holprig ist es noch immer und wer zwischen Wattwil und Herisau telefonieren will, sucht weiterhin vergebens nach Empfang oder Internet. Die Toiletten sind immer noch grusig, aber immerhin muss ich nicht mehr die kalte Luft der Öffnung nach draussen am Allerwertesten spüren und mich an den Wänden festhalten, um nicht vom WC zu fallen. Seit du in neuem Kleid unterwegs bist, bist du reifer geworden.
Ich geniesse es, wenn ich morgens mit den Seniorinnen der Damenriege am Perron beim Verkehrshaus Luzern stehe. Warte geduldig, bis die letzte der Gruppe ihre Wanderstöcke durch den Eingang gezwängt hat. Freue mich, wenn die Damen sich dann zu mir setzen, dabei sogar Rückwärtsfahren, ihre Tupperware öffnen und mir einen selbst gemachten Rüeblikuchen anbieten (letzteres ist leider noch nie passiert.)
Deshalb helfe ich den meist älteren Passagieren auch gerne, wenn sie mit einer Lesebrille auf der Nase wiederholt versuchen, per Twint einen Café Crème aus der modernen Maschine im Bistro zu lassen.
Ich muss sagen, mittlerweile sind mir sogar Kinder egal, die oft mit ihren Omis und Opis oder Göttis und Gottis unterwegs sind und «imfall» immer noch ein Kinderticket kriegen. Während ich mich früher über die nie ruhenden, stets fragenden und musternden Geschöpfe aufregte, versuche ich heute im Kopf Antworten zu finden. Das ist gar nicht so einfach.
Vor allem aber geniesse ich die wunderschönen Landschaften: Den in der Morgensonne leuchtenden Vierwaldstättersee, die mystische, teils im Nebel liegende Hochebene in Rothenthurm, den viel bevölkerten Seedamm zwischen Pfäffikon und Rapperswil und wenn der Zug in Wattwil einfährt, kribbelt es noch immer.
Lieber Voralpenexpress, du bringst mich in Fahrt. Beeindruckst und schaffst es, innerhalb kürzester Zeit nicht nur mich, sondern auch geografisch das Herz der Schweiz zu erobern.