Er steigt die Treppen hinunter, öffnet die Tür, bittet hinein in seine Wohnung in Wattwil. Eine Katze schleicht ihm um die Füsse, während er sich an einen Tisch setzt und sein Blick aus dem Fenster zum Bahnhof gleitet. H. K.* ist 78 Jahre alt und war der erste Corona-Patient im Kantonsspital St.Gallen.
Herr K., wie hat das alles angefangen?
«Keine Ahnung», der 78-jährige ehemalige Elektroinstallateur, zuckt mit den Schultern und hebt die Hände. «Ich habe keine Erinnerung. Eine Lücke.» Er wisse nur noch, dass er am 16. März 2020 zum Arzt gefahren sei, weil er sich schlecht gefühlt habe. «Mein Sohn erzählte mir später, dass mich der Arzt ins Spital Wattwil schickte. Ich fuhr anscheinend selbst dorthin. Mein Auto stand quer auf dem Parkplatz.»
Die Ärzte in Wattwil überwiesen den damals noch unwissenden Coronapatienten nach St.Gallen ins Kantonsspital, wo er am 18. März 2020 ankam.
Gerald Meyer, der Intensivpfleger des Kantonsspitals, den FM1Today portraitierte, erzählte, dass Sie noch selbständig ins Bett gestiegen seien, sich Ihr Zustand aber innerhalb von zwei Stunden enorm verschlechtert habe.
«Daran erinnere ich mich nicht. Ich weiss nichts mehr. Mir wurde später erzählt, dass ich noch mit meiner Schwester sprechen durfte und dass die Pflegefachkräfte ihr mitteilen mussten, dass sie nicht wissen, ob ich die Nacht überlebe.»
Tagebuch des Pflegepersonals
Von da an schrieb das Pflegepersonal Tagebuch, dieses sollte H. K. helfen, sich nach dem Aufwachen zurecht zu finden.
18. – 21.3.2020: «(..) leider geht es Ihnen nicht gut. Sie bekamen innert weniger Stunden grosse Mühe mit dem Atmen, so dass wir Sie intubieren mussten. Das heisst, wir legen Ihnen einen Beatmungsschlauch über den Mund in die Lunge, um Sie künstlich zu beatmen. (…) Für die Intubation, und damit sich Ihre Lunge von der Krankheit erholen kann, versetzen wir Sie in ein künstliches Koma. Das heisst, dass Sie sehr tief schlafen und von der Umwelt sehr wenig bis nichts mitbekommen.»
«Ein paar Stunden nach der Intubation drehten wir Sie von der Rückenlage in die Bauchlage. Dadurch kann sich Ihre Lunge anders entfalten und wir können hoffentlich das Sekret in der Lunge absaugen.»
«Die Ansteckungsgefahr ist der Grund, warum Sie ihre Schwester und Söhne nicht besuchen dürfen.»
«Ich wünsche Ihnen von Herzen gute und schnelle Besserung.»
21.3.2020: «(..) Nun sind Sie schon den vierten Tag bei uns auf der Intensivstation. Sie befinden sich nach wie vor im künstlichen Koma. Ihr Herz und Ihre Niere sind nebst der Lunge ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden.»
«Manchmal stelle ich Ihnen das Radio ein, da ich glaube, dass Sie Musik mögen. Gute Besserung.»
23.3.2020: «(..) Ihre erste Blutwäsche über die Dialyse vertragen Sie gut. Das Medikament zum Schlafen ist seit den frühen Morgenstunden pausiert und am Abend habe ich den Eindruck, dass Sie bei der Gesichtspflege mit kleinen Bewegungen im Mund reagieren.»
26.3.2020: «(..) Ich orientiere Sie regelmässig, wo Sie sind. Sie sind unruhig, was heisst, dass Sie den Kopf hin und her bewegen und die Arme hochziehen. Da Sie sich ungewollt selbst extubieren könnten, sprich, den Beatmungsschlauch entfernen würden, mussten wir Sie an den Händen fixieren.»
29.3.2020: «Heute ist Sonntag. Bereits in den frühen Morgenstunden war es soweit und der Beatmungsschlauch wurde entfernt. Es ging Ihnen von Stunde zu Stunde besser. Das hat uns riesig gefreut.»
«Ich habe im Koma gesungen»
Der Coronapatient H.K. erinnert sich zwar nicht an den Augenblick des Aufwachens, ihm wurde aber später erzählt, dass alle auf der Station jubelten und jauchzten. «Sie haben den Schlauch wechseln müssen und wollten schauen, was passiert, ob ich selbst atmen könne, und da habe ich selbst geatmet. Gehechelt.»
Was dem Coronapatienten aus den rund eineinhalb Wochen im Koma blieb, waren Fantasien: «Ich habe beispielsweise fantasiert, dass eine Krankenschwester mit mir in einem Keller ‹Guten Abend, gute Nacht› gesungen hat. Zweistimmig.» Nach seinem Aufwachen habe er die Pflegerin nach dieser Erfahrung gefragt und sie verneinte. Auch habe er einen weissen Mann gesehen, der ihm Schmuck und Geld geklaut habe, so einer sei aber nie bei ihm im Zimmer gewesen.
Im Koma Grossvater geworden
«Einige Tage nach dem Aufwachen kam einer meiner Söhne zu mir und teilte mir mit, dass ich Grossvater bin. Das Kind kam am 18. März auf die Welt – dem Tag meiner Einlieferung ins Kantonsspital.» Er habe das alles zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht aufnehmen, geschweige denn darauf reagieren, können. «Ich kannte zwar die Wörter, aber ich konnte sie nicht sagen. Ich konnte auch nicht mehr laufen. Die ganze Muskulatur war weg. Du bist als Mensch nichts mehr. Fertig.»
Das Pflegefachpersonal habe sich sehr gut um ihn gekümmert. H. K. tblieb bis Ende April in St.Gallen und wurde dann nach Wattwil verlegt – dort machte er seine ersten Schritte: «Im Flur. Fünf Meter den Gang entlang und fünf Meter zurück. Dann war die Luft weg.» Anfang Mai kam er nach Walenstadtberg in eine Reha-Klinik – wo sein Tag vollgestopft war mit Therapien. «Das waren keine Ferien.»
Herr K., wie war ihr Tagesablauf in der Reha-Klinik?
«Aufstehen. Duschen. Check-up. Frühstücken. Therapie. Pause und nochmals Therapien den ganzen Tag. Nur schon von meinem Zimmer bis in die Folterkammer – so nannte ich das Therapiezimmer damals – war es wahnsinnig weit. Ich musste mit dem Rollstuhl dahin gebracht werden. Langsam lernte ich Treppen steigen und später ging das Lauftraining draussen los. Aber die Waden taten mir innert kürzester Zeit weh.»
Ein Spruch habe dem Corona-Rehabilitierendem besonders Mut gemacht, er stand gross auf einer Tafel in Walenstadtberg.
Sie haben so viel durchgemacht, wussten erst sehr spät, woran Sie litten – haben Sie davor das Coronavirus falsch eingeschätzt?
«Ich hatte keine Ahnung davon. Heute kann ich Leute nicht verstehen, die das Virus hinterfragen. Wenn die wüssten, was das Coronavirus alles anstellen kann – Prost Nägeli!»
Sie haben das Coronavirus glücklicherweise überstanden und können jetzt wieder selbstständig leben – gibt es noch Langzeitfolgen, die Sie belasten?
«Es ist noch nicht alles so, wie es sein sollte. Das kann bis zu einem Jahr oder länger gehen. Ich gehe aktuell immer noch in die Therapie und laufe täglich. Es ist im Alter halt schwieriger, eine neue Muskulatur aufzubauen. Im Spital sagten sie mir, dass sich die Muskulatur in zehn Tagen zurückgebildet hat und es ein halbes Jahr dauert, bis sie wieder kommt.»
Ist es die Muskulatur, die Ihnen aktuell noch zu schaffen macht, oder auch die Lunge?
«Wenn ich mich übertue, beispielsweise Schnee schaufeln, dann merke ich das am nächsten Tag. Ich werde sehr schnell müde. Aber die Werte der Lungen sind gut, kam bei einer Untersuchung heraus, an der ich für eine gesamtschweizerische Studie teilnahm.»
Inwiefern haben Sie sich durch diese Coronainfektion verändert?
«Ich habe mich komplett verändert. Ich bin ein anderer Mensch. Dankbarer. Wenn man so etwas erlebt hat…»
H. K. fehlen die Worte. Es fällt ihm schwer, zu erklären, wie ihn das Erlebte prägt. Zweieinhalb Monate war er isoliert. Weg von seiner Familie. Alleine im Zimmer. Die Dankbarkeit für das zweite geschenkte Leben muss er aber auch gar nicht erklären, sie ist seines Blickes zu entnehmen, der nun zurück zu den Gleisen des Bahnhofs schweift.
«Geniessen Sie den Frühling»
Wo sich der 78-Jährige angesteckt hat, weiss er bis heute nicht. Was das Virus mit einem macht, nur zu gut. «Wenn Leute wüssten, was das Virus anrichten kann, dann würden sie ganz anders handeln. Es greift sämtliche Organe im Körper an.» Liest H. K. jetzt die Tagbucheinträge, stehen ihm die Haare zu Berge.
31.3.2020: «(..) Wir sind sehr glücklich und auch ein wenig stolz darüber, dass wir Sie als unseren ersten Covid-19-Patienten wieder verlegen konnten. Wir wünschen Ihnen nun alles Gute und hoffen, dass wir auch anderen Patienten helfen können. Geniessen Sie den Frühling.»
* H. K. möchte anonym bleiben