Die Intensivbetten im Kanton St.Gallen sind derzeit stark ausgelastet. In St.Gallen werden 26 Patienten auf Intensivstationen beatmet. Einige davon liegen auf der medizinischen Intensivstation am Kantonsspital St.Gallen. Der Rheintaler Gerald Meyer arbeitet seit zehn Jahren im Kantonsspital und ist Pflegefachmann auf der Intensivstation. Der 38-Jährige spricht im Interview über seinen Alltag mit Corona-Patienten.
Gerald Meyer, Sie haben die erste sowie die zweite Corona-Welle am Kantonsspital St.Gallen miterlebt. Wie unterscheiden sich die beiden Wellen in Bezug auf die Intensivpflege?
Es ist eine ganz andere Situation als bei der ersten Welle. Wir haben bei der ersten Welle viele Fotos aus Italien gesehen, auf denen es wie im Krieg wirkte. Wir haben uns auf das Maximum eingestellt. Haben alles heruntergefahren, Personal und Equipment aufgestockt. Schlussendlich sassen wir erst einmal aber einfach nur da, haben Däumchen gedreht und gewartet, bis es losgeht.
Und dann kam der erste Patient?
Ja, nach ungefähr zwei Wochen Ruhe kam der erste Corona-Patient. Corona-Patient eins. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt Spätdienst und habe den Mann aufgenommen. Wir wussten da noch nicht, was auf uns zukommen würde. Jetzt hat man eine Routine entwickelt, damals tauchten Fragen auf wie: Sind die anders? Wie sind die so? Ich fand es sehr eindrücklich. Es war ein älterer, relativ fitter Mann, der innerhalb von zwei Stunden fast gestorben ist. Kurz bevor wir den Beatmungsschlauch anbrachten, habe ich mit seiner Schwester telefoniert, wir wussten da noch nicht, ob der Mann jemals wieder sprechen und ob er überleben würde.
Wie hat sich die Situation des Patienten entwickelt?
Als er mit dem Rettungsdienst kam, bekam er nur wenig Sauerstoff über eine Nasenbrille. Er konnte selbständig vom Rettungswagen auf das Bett steigen. Er war, glaube ich, mit dem Chor unterwegs gewesen. Zwei Stunden später war es nicht mehr möglich, ihm noch mehr Sauerstoff zu geben, weil wir schon komplett aufgedreht hatten. Er hatte Atemnot und wir mussten alles für die Intubation vorbereiten. Ich arbeite nun schon seit 15 Jahren auf verschiedenen Intensivstationen, aber eine so rasante Verschlechterung habe ich noch nie gesehen.
Hat der Mann überlebt?
Ja, er hat überlebt. Er war über Wochen bei uns und musste über Wochen beatmet werden und es konnte jederzeit in beide Richtungen kippen.
Sie waren in dieser Situation zum ersten Mal hautnah mit dem Coronavirus konfrontiert, hatten Sie Angst davor, was noch alles auf Sie zukommen wird?
Ja, natürlich. Wir hatten die Bilder aus Italien im Hinterkopf, haben die Zahlen auch mitbekommen. Wir wussten, wenn es mit den Patienten so weiter geht, dann wird das ganz heftig. Auf der anderen Seite waren wir, das klingt jetzt vielleicht komisch, aber auch erleichtert, dass es wirklich los geht und wir nicht immer nur darüber sprechen.
Die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen hat in der zweiten Welle zugenommen und ist derzeit deutlich höher als noch im Frühling.
Wir haben normalerweise acht Beatmungsplätze mit Maskenbeatmung. Jetzt haben wir zwölf und es wurden weitere Beatmungsplätze in einem Überwachungszimmer und noch anderen Zimmern eingerichtet. Wir haben zusätzliche Geräte erhalten, teilweise vom Militär, in die wir uns zuerst einarbeiten mussten, wir haben unglaublich hochgefahren. Normalerweise ist ein Pfleger für einen Intensivpatienten zuständig. Aktuell haben wir rund drei Patienten gleichzeitig, die voll beatmet werden müssen.
Wie muss man sich einen Corona-Patienten vorstellen? Wie wird er behandelt?
Mittlerweile gibt es eine Art Standard-Routine, die eigentlich bei allen Corona-Patienten, die in die Intensivstation müssen, gleich ist. Der Patient kommt mit dem Rettungsdienst an. Er muss vielleicht noch nicht beatmet werden. Wir schauen uns den Patienten an und überlegen uns die nächsten Schritte. Wir bereiten Medikamente vor und eine Intubation (also Beatmung durch einen Schlauch) und überlegen uns, was es braucht, um den Patienten allenfalls in ein künstliches Koma zu versetzten. Wir klären den Patienten und die Angehörigen auf und informieren sie darüber, dass der Patient vielleicht in einer halben Stunde nicht mehr in der Lage ist zu sprechen. Möchte er nochmals mit Verwandten sprechen? Muss ein Patient ins künstliche Koma versetzt und beatmet werden, müssen wir ständig die Sauerstoffsättigung und den Kreislauf überprüfen. Es finden weitere Tests statt und schliesslich braucht es auch noch eine Magensonde, damit der Patient Nahrung aufnehmen kann. Ausserdem wird ein Luftbett vorbereitet, mit dem der Patient in Bauchlage versetzt werden kann.
Und dann könnt ihr durchatmen?
Das alles dauert rund drei Stunden und dann können wir das erste Mal durchatmen, ja. Der Patient bleibt rund zwölf Stunden in der Bauchlage. Aber wir müssen den Körper immer wieder bewegen. Das ist nicht einfach, da der Patient schläft und vollkommen relaxiert ist. Da muss man aufpassen, dass der Beatmungsschlauch nicht rausrutscht.
Wie konnte sich diese Standard-Routine entwickeln?
Wir haben natürlich viele Daten aus China erhalten und wussten ein bisschen, was funktioniert und was nicht. Schlussendlich kannte aber niemand das Virus und wir mussten beobachten, wie sich der Zustand der Patienten verändert.
Woran sterben die meisten Corona-Patienten?
Man sieht vor allem, dass die Lungen-Elastizität einbüsst. Es gibt mit der Gerinnung Probleme und eigentlich wirkt es sich auf alle Organe aus. Es lässt sich nicht zu hundert Prozent sagen, woran die Menschen schliesslich sterben. Es ist ein sehr komplexes Multiorganversagen. Manche Organe können ersetzt werden, aber nicht alle.
Wie viele Organe werden gerettet?
Das entscheiden die Ärzte je nachdem, wie sich die Monitorwerte verändern. Während die erste Phase bei der Aufnahme der Patienten sehr ähnlich ist, unterscheidet sich die Behandlung auf der Station gewaltig von Patient zu Patient. Bei den einen verbessert sich die Situation schneller, bei anderen weniger. Ausserdem gibt es eine entscheidende weitere Phase: das Aufwachen. Während des Komas konnten wir die Atmung kontrollieren und alles genau einstellen. Erwacht ein Patient aus dem Koma, ist das nicht wie im Fernsehen. Es geht dem Patienten nicht gut. Die Leute haben oft keinen blassen Schimmer, wo sie sind, sie haben Schmerzen, finden Ärzte ätzend oder sind verwirrt und müssen natürlich wieder selbständig atmen.
Überleben viele Corona-Patienten die Intensivstation?
Ja, schon. Es gibt einige mit einem, wie wir das nennen, «positiven Outcome». Wir wissen bei den meisten Patienten, die die Intensivstation verlassen, aber nicht, wie es bei ihnen weitergeht. 99 Prozent der Patienten kommen auf eine andere Station, sie müssen anschliessend in eine Reha und die ganze Muskulatur, die sie während des Komas verloren haben, wieder aufbauen. So etwas dauert Monate.
Wie gehen Sie persönlich mit dieser enormen Belastung sowohl körperlich als auch psychisch um?
Die Belastung hat extrem zugenommen. Nur schon durch die Angehörigen. Viele haben in den Medien irgendwelche Theorien gehört und fragen dann, warum das und das bei ihrem Angehörigen nicht ausprobiert wird. Wir wollen aber immer auch, dass sich die Angehörigen verstanden fühlen. Wir führen auch ein Tagebuch der einzelnen Koma-Patienten. Dadurch wissen diese auch, sollten sie aufwachen, was in dieser Zeit tatsächlich passiert ist und was sie nur geträumt haben. Oft bekommen Patienten im Koma viel mit. So ist die Verarbeitung auch für die Angehörigen einfacher.
Und für Sie selbst? Wie verarbeiten Sie das alles?
Man muss natürlich schauen, dass man selbst einen Ausgleich sucht. Der eine tut das beim Sport, der andere beim Fernsehen. Es ist schon wichtig, dass man sich nach Corona, sollte sich die Situation irgendwann einmal entspannen, nicht in ein Burnout verabschiedet. Die Belastung ist schon extrem. Durch die Überstunden, die Verantwortung, die Angehörigen und auch noch Auszubildende, die man betreuen sollte.
Sind Sie schon an Ihre Grenzen gekommen?
Ja, das hat man immer wieder einmal. Bei stressigen Schichten beispielsweise, bei der noch eine Reanimation dazu kommt. Es ist hart, man muss sich aber immer auch ein Stück abgrenzen. Man tut, was man tun kann. Manchmal geht es in diese, manchmal in die andere Richtung. Man muss auch lernen, dass ein Patient nicht immer lebend aus einer Situation herauskommen muss, vielleicht kommen Patienten und Angehörige zum Schluss, dass sie nicht durch Geräte am Leben erhalten werden möchten. Vielleicht ist es in dieser Situation ein Erfolg, dass der Patient Frieden finden und sich ohne Stress verabschieden kann.
Haben Sie manchmal Angst, weil aus der Corona-Pandemie derzeit kein Ende ersichtlich ist?
Ja, absolut. Man weiss nicht, was man dagegen tun kann und wann der Impfstoff kommt. Man ist sich nicht gewohnt, dass man ein Problem hat, gegen das man nichts tun kann.
Das Pflegepersonal hat schon oft durch Aktionen um mehr Aufmerksamkeit auch aus der Politik gebeten. Was wünschen Sie sich vom Volk und den Behörden?
Klatschen ist ja schön und gut, aber es wird halt immer beim Personal gespart. Man muss jetzt einfach einsehen, dass es Personal braucht und die Bedingungen verbessert werden müssen. Es haben sich viele Überstunden angehäuft und es ist derzeit schwierig, Freundschaften zu pflegen, weil man so viele unterschiedliche Schichten hat. Es wäre schön, wenn es mehr Flexibilität im Beruf gäbe. Ich selbst weiss jetzt schon, dass ich den Beruf nicht bis zur Rente ausüben werde.
Von der Bevölkerung wünsche ich mir manchmal etwas mehr Akzeptanz der Massnahmen, die in der Schweiz gelten. Diese sind in Bezug auf das Ausland relativ harmlos. Ich habe manchmal Mühe, nachzuvollziehen, warum Menschen die Abstands- und Maskenpflicht kritisieren. Für mich ist das gesunder Menschenverstand und ich habe das Gefühl, dass es allen Menschen gut tun würde, wenn sie einmal mit einem Schutzanzug eine Intensivstation besuchen würden. Sie hätten bestimmt, wenn sie wieder raus kämen, eine andere Sicht auf die Situation.
Was mit Patienten passiert, die keinen Platz mehr auf Intensivstationen haben und wie entschieden wird, wer aufgenommen wird, hört in unserem «Gott und d'Welt»-Podcast.
Quelle: tvo