Das Bergsteigen fordert absolute Beweglichkeit, ist körperlich anstrengend und bedeutet Freiheit. In ihrem Beruf als Stiftungsratspräsidentin der Schweizer Paraplegiker-Stiftung begegnen Sie dem Gegenteil – Menschen mit Querschnittlähmung. Wie ist das für Sie?
Heidi Hanselmann: Für mich ist das Bergsteigen mit der Tätigkeit, die ich hier ausübe, sehr vergleichbar. Sie ist herausfordernd. Auch geht es darum, innovativ zu sein und neue Wege zu finden, sowie dabei die Umwelt mitzuberücksichtigen. Gibt es beim Bergsteigen zum Beispiel einen Wetterumbruch, muss ich entscheiden: Gehen wir weiter? Müssen wir einen Halt machen oder gar umkehren? Das ist als Stiftungsratspräsidentin ähnlich. Es geht darum, innovative und neue Möglichkeiten herauszuarbeiten, sodass Menschen mit Querschnittlähmung möglichst selbständig, selbstbestimmt und bei guter Gesundheit ihr Leben meistern können. Für die Betroffenen selber gibt es Einschränkungen, aber auch neue Perspektiven. Unsere Aufgabe ist es, zu motivieren und aufzuzeigen, was die veränderte Situation – die ein dramatischer Einschnitt ins Leben ist – für neue Möglichkeiten bietet.
Sie sagen, das Bergsteigen und ihre Aufgabe bei der Paraplegiker-Stiftung seien vergleichbar: Beides ist herausfordernd. Wo genau sehen Sie die Herausforderungen in ihrem Amt?
Die Stiftung ist zusammengesetzt aus neun Gruppengesellschaften, was per se schon viel ist. Unsere Philosophie ist es, Unterstützung zu leisten, und zwar ab Unfall über die akute Betreuung im Spital, die Rehabilitation bis hin zum Alltag zu Hause – also ein Leben lang. Die neun Gruppengesellschaften nehmen dabei verschiedene Bereiche wahr. Das sind grosse Themenfelder.
Ich bringe in den Bereichen Spital, Gesundheit und Rehabilitation viel Erfahrung mit. Auch vom Wissen, das ich als Präsidentin der Gesundheitsdirektorinnen- und direktorenkonferenz Schweiz erwerben konnte, profitiere ich stark. Deshalb kann ich im strategischen Wirken auf viele Instrumente in meinem «Erfahrungsrucksack» zugreifen. Die Arbeit ist spannend, weil wir mit den Betroffenen möglichst hohe Selbstbestimmung – ein Leben lang – erreichen wollen. Das braucht vernetztes Know-how. Eine weitere Herausforderung sind die rund anderthalb Millionen Gönnerinnen und Gönner – unser Ziel ist es, noch mehr Leute zur Mitgliedschaft zu motivieren, um als Spendende dieses einzigartige Solidarwerk zu unterstützen.
Mir ist wichtig, die Vernetzungen unter den Gruppengesellschaften effektiver zu gestalten. Wir wollen Doppelspurigkeiten abbauen. Diese Philosophie habe ich auch als Politikerin verfolgt. Das ist ein steter Prozess, der immer beobachtet werden muss und Einsatz erfordert – wie in einer Beziehung: Hört man auf, an sich zu arbeiten, kann es schnell knirschen. Und natürlich gibt es auch in diesem Amt Knackpunkte. Das haben mir die vielen Gespräche, die ich in diesem Jahr in allen Gruppengesellschaften mit den Mitarbeitenden und Betroffenen führen durfte, aufgezeigt. Jetzt geht es daran, Nägel mit Köpfen zu machen.
Haben Sie den Durchblick nach knapp einem Jahr im Amt als Stiftungsratspräsidentin?
Ich bin in diesem Jahr schon weit gekommen. Fertig wird das nie sein und das ist auch wichtig und richtig so. Es gibt immer neue Themenfelder und Herausforderungen und wenn das Gefühl aufkommt, alles zu wissen, dann denke ich, muss man das Amt abgeben.
Wie wirkt sich Corona auf ihre Arbeit aus?
Querschnittgelähmte sind oft mehrere Monate hier in Nottwil. Und Corona begleitet uns schon länger als ein Jahr. Deshalb muss gut überlegt werden, wie das mit den Besuchen gehandhabt wird. Das ist knallhart, wenn für so lange Zeit einfach niemand zu Besuch kommen darf. Es ging deshalb auch darum, immer die richtige Balance zwischen Notwendigkeit und Machbarkeit zu finden. Weil wir auch ein Corona-Spital waren, hatten wir praktisch wöchentlich Besprechungen mit dem Kanton Luzern.
Für mich war es in dieser Situation schwierig, die Mitarbeitenden kennenzulernen. Wir haben natürlich Zoom, Teams und so weiter genutzt, aber das Zwischenmenschliche fehlte. Ich habe die Mitarbeitenden über das Intranet angesprochen und ihnen für ihre wertvolle Arbeit gedankt. In dieser Situation Höchstleistung zu erbringen, ist sehr bemerkenswert. Und es gab kein Weihnachtsessen oder Neujahrsgespräche, das habe ich ebenfalls vermisst.
Ist das Weihnachtsessen ein grosses Ziel für dieses Jahr?
Ich bin zuversichtlich, dass wir bereits im Sommer etwas machen können. Wir haben in Nottwil eine wunderbare Umgebung und sogar eine Beachbar.
Was für besondere Projekte stehen bei der Paraplegiker-Stiftung an?
Die Aufgabe der Gruppengesellschaften ist es grundsätzlich sicherzustellen, wie der Alltag der Betroffenen verbessert werden kann. Es liegt in unserer Verantwortung und Verpflichtung, diesbezüglich zu forschen, zu therapieren und ein optimales medizinisches Angebot sicherzustellen.
Aktuell arbeiten wir an einem grossen Projekt, das auch den Kanton St.Gallen betrifft. Die ambulante und wohnortnahe Versorgung soll schweizweit verbessert werden. So, dass die Betroffenen nicht wegen jeder Kleinigkeit nach Nottwil fahren müssen. Das wäre im ehemaligen Spital Flawil angedacht.
Wenn wir gerade über Flawil sprechen: Sie sind seit gut einem Jahr nicht mehr Regierungsrätin von St.Gallen. Was vermissen Sie und was nicht?
Ich bin immer noch oft in St.Gallen und Walenstadt. Hier bin ich daheim. Das wird sich auch nicht ändern.
Meine jetzige Tätigkeit unterscheidet sich stark von der Arbeit als Regierungsrätin. Wie heisst es so treffend: Würde bringt Bürde. Das hat was. Aber es ist auch ein Privileg, 16 Jahre lang an den politischen Schalthebeln mitwirken zu können. Es war interessant und spannend und ich möchte die Jahre als Regierungsrätin nicht missen. Jetzt stehe ich an einem anderen Punkt und das ist gut so. Ich schaue nicht wehmütig zurück. Ich gehöre zu dien Personen, die, wenn sie etwas entschieden haben, den Schritt vorwärts machen. Ich geniesse meine neuen Freiheiten und dass ich nicht mehr stets unter 100-prozentiger Beobachtung stehe.
Verfolgen Sie das politische Geschehen in St.Gallen noch?
Ja. Wenn man so lange und mit so viel Herzblut politisch tätig war, bleibt das Interesse wohl ein Leben lang.
Wo trifft man Sie als nächstes auf einer Bergtour?
Die nächste besondere Bergtour steht im Juni an. Da werde ich mit dem Gemeindepräsidenent und einem Teil der Bevölkerung von Jonschwil-Schwarzenbach den Höhenweg am Walenstadter Berg unter die Füsse nehmen. Als Präsidentin der Eidgenössischen Nationalparkkommission bin ich auch immer wieder im Nationalpark unterwegs. Letzten Juni habe ich in zwei Wochen alle Wanderwege und Berge, die bestiegen werden dürfen, abgewandert. Ich konnte beobachten und einfach geniessen. Es ist wunderbar, dass ich Leidenschaft und Beruf so vereinen kann.