Schweiz

Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg: Wie hat sich die Schweizer Politik in den letzten Jahren gemacht? Teil 1

Polit-Serie

«In Krisen kommt die direkte Demokratie an den Anschlag»

15.11.2022, 05:52 Uhr
· Online seit 14.11.2022, 09:31 Uhr
Die letzten drei Jahre hatten und haben es in sich. Viele weitreichende Entscheidungen wurden getroffen. Das Volk hatte dabei in den wenigsten Fällen etwas zu melden. Umso wichtiger war die Rolle der Politik. Wie haben Bundesrat und Parlament ihren Job gemacht? Gemeinsam mit dem Politik-Experten Hanspeter Trütsch blicken wir in zwei Teilen auf die letzten Jahre zurück.
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Wir schauen ins Jahr 2020 zurück. Wir beurteilen Sie die politische Arbeit ab Pandemiebeginn?

Hanspeter Trütsch: Wir erinnern uns zurück an den Montag, den 16. März, als der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» ausgerufen hat, kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Die ganze Coronazeit hat uns aus dem Gleichgewicht geworfen. Das Parlament wurde im März nach Hause geschickt, der Bundesrat hat sehr viel Recht bekommen – für viele Leute zu viel. Im Nachhinein kann man sagen, der Bundesrat hat einen guten Job gemacht. Die Schweiz ist relativ glimpflich durch die Pandemie gekommen. Die Unternehmen haben schnell und unbürokratisch finanzielle Hilfe bekommen, was zum grossen Teil auch das Verdienst des zurücktretenden Bundesrat Ueli Maurer war.

Nicht nur Ueli Maurer tritt zurück, auch Simonetta Sommaruga. Was löst das bei der Bevölkerung aus?

Die Bevölkerung nimmt Anteil und es zeigt auch, wie wichtig ein Bundesratsamt ist. Ein Bundesrat ist nicht einfach der Aktuar eines Quartiervereins. Vor allem während Corona hat man gespürt, wie wichtig ein starker Bundesrat ist. Die sieben Bundesrätinnen und Bundesräte müssen nach aussen als Kollegialbehörde auftreten. Das ist in letzter Zeit leider nicht immer der Fall gewesen. Erschwerend kommt dazu, dass wir in einer Phase von «multiplen Krisen» leben. Einerseits die Corona-Pandemie, dann sind wir plötzlich konfrontiert mit einem Krieg mitten in Europa und das, obwohl wir eigentlich dachten, wir hätten eine stabile Weltlage. Daraus resultieren eine Energie- und Flüchtlingskrise. Das alles verunsichert die Bevölkerung natürlich. Wir kommen von unserer Wohlstandsinsel runter und so manches wird relativ.

Wie Sie sagen, wir sind mitten in einer Energiekrise, niemand weiss, wie es weitergeht – und die Energieministerin Simonetta Sommaruga tritt zurück. 

Ich denke, die Bevölkerung hat eingehend Verständnis für die Motive des Rücktritts. Dass sie jetzt wegen des Hirnschlages ihres Mannes geht, sind achtenswerte, persönliche Gründe. Man hat ihr an der Medienkonferenz auch deutlich angesehen, wie schwer ihr das fällt. Ich denke, diesen Aspekt hat die Bevölkerung höher gewichtet als den Umstand, dass jetzt jemand anders die Energiesituation klären muss. Hinzu kommt, dass bezüglich Strommangel bereits wieder eine gewisse Entwarnung gegeben wurde. Im Prinzip kann man sagen, Simonetta Sommaruga hat sehr früh gespürt, dass etwas kommt und vorgesorgt. Sie hat auch für den Fallschirm für Energiebetriebe gesorgt. Insofern kann man ihr keinen Vorwurf machen.

Gewisse Leute werfen dem Bundesrat vor, sich immer öfter auf Notrecht und dringliche Gesetze zu stützen. Verkommt die direkte Demokratie?

Der Vorwurf war mindestens während der ausserordentlichen Lage berechtigt. Der Bundesrat hat im Alleingang entschieden, was passiert. Jetzt ist es wieder anders, das Parlament kann eingreifen. Aber wenn es so weiter läuft mit der Energiekrise, wird der Bundesrat wieder über Notrecht Entscheide fällen müssen. Der Bundesrat hat die Kompetenz, Verordnungen zu beschliessen. Diese müssen später in ordentliches Recht überführt werden. Wir haben ein sehr schwerfälliges politisches System. 7 Bundesräte, 26 Kantone, permanente Vernehmlassungen, die sich gegenseitig oft widersprechen – unser direktdemokratisches politisches System kommt in Krisen an den Anschlag und irgendjemand muss einfach mal eine Entscheidung fällen. Und das ist dann eben der Bundesrat.

Eine kürzlich erschienene Studie der ETH Zürich entlarvt das Grundproblem in der Corona-Pandemie: Vor lauter Organisationen, Stäben und Organigrammen hatte keiner mehr den Überblick. Das Fatalste daran ist, dass wir einen Krisenstab haben, der gar nicht richtig eingesetzt wurde. In der Ukraine-Krise passiert dasselbe. Diverse Bundesämter machen irgendetwas, aber niemand hat so richtig den Überblick. Da müsste man eine vertrauenswürdige Person ernennen, die in solchen Situationen die Richtung vorgibt.

Woran liegt es, dass die ganzen Stellen ihren Job nicht planmässig machen können?

Es ist doch ein Unsinn zu glauben, dass man im Jahr 2022 mit Internet und den sozialen Medien Entscheidungen noch auf dem «Faxweg» fällen kann, wie dies zum Teil während der Corona-Pandemie noch geschah. Die Entscheidungsprozesse sind viel zu kompliziert und bedürfen klarer Führung. Auch in den sieben Departementen im Bundesrat herrscht Silodenken. Man spielt auf Einzelpersonen, gewisse Leute wollen sich natürlich auch profilieren um 2023 wiedergewählt zu werden. Klarere Strukturen müssen her. Unsere Schönwetter-Organisation kann nicht einfach auf eine Krise übertragen werden. Und wir stecken in einer Krise, auf die wir nicht vorbereitet sind.

Wie kann man diesen Umstand beheben?

Es braucht einmal mehr einen runden Tisch. Wir haben nebst Corona und dem Ukraine-Krieg noch andere Bereiche, die überhaupt nicht gelöst sind. Die Krankenkassenprämien, die aus dem Ruder laufen, das Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, wir drehen uns im Kreis. Es braucht Mut zur Lücke und Mut zur Bescheidenheit. Wir sind zu bürokratisch und haben zu viel Leerlauf. Dabei müssten wir in der Lage sein, einen komplexen Sachverhalt auf einer A4-Seite darzustellen. Stattdessen stecken wir permanent in Vernehmlassungen, weil alle Leute das Gefühl haben, sie müssen ihren Senf auch noch dazugeben. Genau das führt zu dieser diffusen Informationslage.

Vertritt der Bundesrat die Bevölkerung in solchen Krisensituationen gut?

Das ist schwierig zu beurteilen. Während Corona hatten wir die Massnahmen-Kritiker, die gesagt haben, der Bundesrat geht zu weit und greift in die Bürgerrechte ein. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Die jüngste Umfrage zeigt, dass die Schweizer Behörden insgesamt noch immer ein sehr hohes Vertrauen geniessen. Und das trotz allen parteipolitischen Unstimmigkeiten und auch Reibereien innerhalb des Bundesrates. Ein Kritikpunkt, den man gelten lassen muss: Der Bundesrat tritt in letzter Zeit wie schon gesagt immer weniger als Team auf. Es müssen die Interessen des Volks im Fokus stehen und nicht die der Parteien. Trotzdem: Stand September 2022 hat der Bundesrat noch immer einen Vertrauensbonus von 7,3 bei 10 Maximalpunkten. Das ist noch immer sehr gut.

Woran liegt das, dass der Bundesrat nicht mehr so geschlossen auftritt? Früher war das nicht so auffällig.

Früher war es tatsächlich weniger ausgeprägt. Die Medien spielen heute eine andere Rolle. Emotionalisierung, Personalisierung und Skandalisierung sind die drei Worte, die mir dazu einfallen. In diesem Umfeld verliert der Inhalt an Wichtigkeit und der Mensch wird in den Fokus gerückt. Dazu kommt, dass man heutzutage auf Stufe Bundesrat nichts mehr geheim halten kann. Jede Indiskretion ist auch Mittel zum Zweck, um irgendetwas zu erreichen. Während Corona konnte man schon am Vortag lesen was der Bundesrat am nächsten Tag beschliessen will. Irgendwo rinnt es immer.

Im zweiten Teil des Interviews, der am Dienstag erscheint, schätzt Hanspeter Trütsch die politische Arbeit anhand von konkreten Beispielen ein.

veröffentlicht: 14. November 2022 09:31
aktualisiert: 15. November 2022 05:52
Quelle: FM1Today

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