Wann und wie diese Umwälzung der Bevölkerung am Ende der Jungsteinzeit genau ablief, war bislang zu grossen Teilen offen. Doch nun melden Forschende aufgrund umfangreicher genetischer Analysen: Die altansässige Bevölkerung auf dem Gebiet der heutigen Schweiz lebte jahrhundertelang neben den Einwanderern aus der Steppe des heutigen Russland und der Ukraine. «Bemerkenswerterweise fanden wir mehrere weibliche Individuen, deren Gene keinerlei Spuren der Vorfahren aus der Steppe aufwiesen», lässt sich Studienautorin Anja Furtwängler in einer Mitteilung der Universität Bern zitieren. Dabei hätten die Einwanderer bereits seit 1000 Jahren ebenfalls in der Region gelebt.
Auf die Spur gekommen waren die Forschenden der Universitäten Bern und Tübingen (D) sowie des Max Planck-Institut in Jena (D) den einstigen Parallelgesellschaften in der frühen Schweiz durch Zufall. 2011 wollte ein elfjähriger Bauernsohn bei Oberbipp BE mit einem kleinen Bagger einen Stein aus der Wiese räumen. Doch nach stundenlanger Arbeit stiess er darunter auf zahlreiche sterbliche Überreste. Bei Ausgrabungen im Jahr darauf legten Archäologen ein sogenanntes Dolmengrab frei. In diesem Grosssteingrab waren um 3200 und 2700 vor Christus in zwei Phasen mindestens 40 Männer, Frauen und Kinder bestattet worden.
13 Grabstätten untersucht, 96 Genome ausgewertet
Tausende Knochenfragmente aus dem bernischen Kollektivgrab sind seither zusammengesetzt und untersucht worden. Demnach handelte es sich bei den Bestatteten um Frauen und Männer aller Altersklassen. Und es zeigte sich: Während die Männer ihrem Geburtsort treu blieben, stammen die Frauen aus nicht verwandten Familien und haben auch keine Vorfahren aus der Steppe. Die altansässigen Bewohner der heutigen Schweiz haben sich also mit den Zuwanderern, die in der frühen Bronzezeit grosse Teile Zentraleuropas besetzten, jahrhundertelang nicht vermischt.
Seither haben die Forschenden – inzwischen gefördert aus Mitteln des Schweizerischen Nationalfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft – insgesamt 13 Grabungsstätten in der Schweiz, in Süddeutschland und im französischen Elsass untersucht. 96 alte Genome konnten darauf ausgewertet werden, schreibt das internationale Forscherteam in einem am Montag publizierten Artikel in der Fachzeitschrift Nature Communications. Ebenfalls quasi zufällig sind die Forscher dabei auf einen der bisher ältesten Laktosetoleranten gestossen. In Spreitenbach AG fanden sie demnach Überresten eines Menschen, der sich bereits um 2400 v.Chr. von grösseren Mengen unvergorener Milch und Milchprodukten ernähren konnte.
Aus dem 1767-Seelen-Dorf in die Weltgeschichte
«Der Fund eines intakten Dolmengrabs in der Schweiz war eine Sensation», betont Studienautorin Sandra Lösch vom Institut für Rechtsmedizinischen der Universität Bern in der Mitteilung. Dadurch hätten sogar genetische Profile der Jahrtausende alten Skelette gewonnen werden können. Womit laut den Forschenden nun klar ist, dass es seit der letzten Eiszeit im Gebiet der heutigen Schweiz zwei grosse Migrationsereignisse gab, die jeweils zu einem fundamentalen Wandel der früheren europäischen Geschichte führten.
So wanderten um 5500 v.Chr. Menschen aus dem anatolisch-ostmediterranen Raum ein und um 2800 v.Chr. kamen die Einwanderer aus dem nördlichen Schwarzmeerraum und dem Kaukasus. Doch beide Male ist die altansässige Bevölkerung nicht ausgetauscht worden. Sondern die beiden Volksgruppen lebten Jahrhunderte lang nebeneinander her.
Seit sechs Jahren übrigens ist der 7,5 Tonnen schwere Stein, den der damals elfjährige Bauernsohn an der Steingasse in Oberbipp auf seiner Wiese wegräumen wollte, wieder zu sehen. Einfach ein paar Meter weiter, am Dorfrand. Nun schafft es das 1767-Seelen-Dorf am Jurasüdfuss im bernischen Oberaargau damit sogar noch in die Weltgeschichte.