Schweiz

«Gender Disappointment» – wenn werdende Mütter nur ein Mädchen wollen

Baby-Trend

«Gender Disappointment» – wenn werdende Mütter nur ein Mädchen wollen

01.07.2023, 10:28 Uhr
· Online seit 01.07.2023, 09:09 Uhr
War man noch vor 70 Jahren stolz, einen «Stammhalter» geboren zu haben, hat sich dies in westlichen Gesellschaften geändert. Werdende Mütter wünschen sich immer öfter ein Mädchen. Kommt es anders, ist die Enttäuschung oft riesig.
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Auf TikTok kursieren unter dem Hashtag #GenderDisappointment zahlreiche Videos zu Müttern, Vätern oder ganzen Familien, die alles andere als glücklich sind, wenn sie vom Geschlecht des Babys erfahren. Auch in Foren schreiben Userinnen über Gefühlslagen wie tagelange Tränen, heftige depressive Zustände, und bittere Enttäuschung.

Eine werdende Mutter berichtet gegenüber der Today-Redaktion von vielen Kolleginnen, die sich ebenfalls unbedingt ein Mädchen wünschen. In ihrem Freundeskreis sei diese Tendenz mehr als deutlich spürbar. Dies zeigt auch ein Bericht der «Neuen Zürcher Zeitung» mit dem Titel: «Werdende Mütter wünschen sich Mädchen, Jungen werden zum Betriebsunfall».

Umgang mit der Enttäuschung

Der Begriff «Gender Disappointment» soll die Gefühlslage vieler Mütter – und vielleicht auch Väter – beschreiben, wenn statt des gewünschten Geschlechts des Babys das andere auf dem Ultraschall erscheint. Zu Traurigkeit und Enttäuschung kommen danach typischerweise Schuld und Scham, wenn man nicht bekommt, was erwartet wurde.

Barbara Stocker Kalberer, Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbands, würde den enttäuschten Müttern erstmals Zeit lassen und vor allem neutral bleiben, «denn mit der Enttäuschung müssen sie selber umgehen können. Und ich kenne ihre genauen Beweggründe ja nicht», sagt sie gegenüber der Today-Redaktion.

Tagelange Tränen und heftige Depressionen

«Kill all men» war beim Internationalen Frauentag in Berlin auf Transparenten zu lesen, und zeigt den Ausdruck dieser Tendenz und eine gesellschaftliche Entwicklung. «Bitte ein Mädchen, bitte ein Mädchen», ist in einem Online-Blog zu lesen, und die Userin beschreibt über ihre tiefe Traurigkeit, als sie vom Geschlecht ihres Babys erfuhr.

«Wie stark so eine Enttäuschung ist, hängt natürlich von der Persönlichkeit der Eltern ab. Aber im Gegensatz zu Ländern wie Indien oder China, in denen Mädchen immer noch abgetrieben werden, geht es bei uns vor allem darum, dass das Kind gesund ist», sagt Dr. Mechthild Neises, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe und Psychotherapeutin an der Medizinischen Hochschule Hannover gegenüber dem Portal eltern.de.

@_chaneemarieex_ Gender Disappointment is a REAL thing, i wouldn’t change having a little boy for the WORLD & im not a bad mother for being feeling this way, ITS NORMAL. #genderdisappointment ♬ HOWD THAT MAKE YOU FEEL - lifebymichael

Doch keine Gleichstellung der Geschlechter

War die Enttäuschung einiger Eltern früher gross, wenn sie statt eines Knaben ein Mädchen bekamen, ist es heute umgekehrt. Und dies, obwohl das Geschlecht sonst überall an Bedeutung verliert und Frauen wie Männer nach Gleichstellung streben.

Männlichkeit wird inzwischen als eine Art Abweichung von der Norm beschrieben, gemäss dem Bericht der NZZ. «Männliche» Eigenschaften, die früher hochgelobt waren, werden nun umgedeutet: Unabhängigkeit wird zu Beziehungsunfähigkeit, Leistungswille zu Karrieresucht, Disziplin zu Mangel an Spontanität. Der typische Problemschüler ist heute männlich.

Warum die Abneigung gegen Jungen?

Zu den typisch männlichen Eigenschaften, die lange Zeit «einen Mann zu einem richtigen Mann» machten, gehören Logik, Kontrolle, Rationalität, Aggressivität. Diese gelten jetzt als unerwünschtes und potenziell krankhaftes Verhalten, sagt der irische Psychiater Anthony Clare.

Was in den zahlreichen Videos auf Social Media jedoch auch auffällt: Die erst enttäuschten Mütter melden sich nach der Geburt der Babys oft mit Worten wie «Aber jetzt würde ich meinen Baby-Boy um keinen Preis mehr hergeben!» Die Enttäuschung sitze in der Regel nicht so tief, und das Baby macht so glücklich, dass gar keine Zeit zum langen Ärgern über das «falsche» Geschlecht bleibt, wenn das Kind erst mal da sei, sagt Mechthild Neises.

Wunschgeschlecht auf Bestellung

«PID» steht für «Präimplantations-Diagnostik» und bedeutet, dass sich die befruchtete Eizelle mit dem Wunschgeschlecht in die Gebärmutter einsetzen lassen kann. Zum Baby-Wunschkonzert kommt es bei uns allerdings noch nicht, denn in den meisten europäischen Ländern ist dies mit wenigen Ausnahmen verboten.

Weshalb die meisten Eltern heute wissen wollen, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen bekommen, beschreibt Psychotherapeutin Mechthild Neises so: «Das hat mit unserem immer stärker werdenden Bedürfnis nach Kontrolle zu tun. Wir wollen wissen, was kommt und uns darauf aktiv einstellen können. Etwas einfach geschehen lassen, das passt nach dem Gefühl vieler nicht richtig in die Zeit.»

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veröffentlicht: 1. Juli 2023 09:09
aktualisiert: 1. Juli 2023 10:28
Quelle: Today-Zentralredaktion

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