Spätestens seit das «E-ID-Gesetz» im März letzten Jahres mit einer eindeutigen Mehrheit vom Schweizer Stimmvolk abgeschmettert wurde, ist die Digitalisierung hierzulande auf der politischen Agenda angelangt. Eine elektronische Identität lehnten die Schweizerinnen und Schweizer ab. Die Forderung nach mehr Sicherheit, Schutz und Transparenz im Internet scheint gross. Das zumindest zeigt eine neue Umfrage der Swico, des Wirtschaftsverbandes der digitalen Unternehmen in der Schweiz. 75 Prozent der Befragten gaben an, dass der Staat die eigene Entwicklung im Bereich «Cybersicherheit» erhöhen muss.
Martin Steiger ist Rechtsanwalt und Eigentümer einer Kanzlei in Zürich, die auf Recht im digitalen Raum spezialisiert ist.
Herr Steiger, die Schweiz ist nicht gerade bekannt für ihre digitalen Innovationen. Wie schätzen Sie die Lage hierzulande ein?
In der Schweiz haben wir ein Innovations- und Digitalisierungsproblem. Wir sind schlecht darin, moderne Innovationen zu schaffen; in der Digitalisierung wie auch in anderen Bereichen.
Wie meinen Sie das?
Fehler machen, Risiken eingehen, das liegt uns Schweizerinnen und Schweizern nicht besonders. Uns fehlt es oft an Mut. Um digital am Ball zu bleiben, muss man ausprobieren, mutig sein und Fehler machen. Unsere Mentalität, lieber auf Nummer sicher zu gehen, ist im Digitalen besonders schädlich, weil sich dieser Bereich rasant verändert und entwickelt. Da verliert man schnell den Anschluss.
Digitale Innovationen erleichtern unser Leben in vielen Bereichen. Gleichzeitig öffnet die Digitalisierung aber auch Tore zu neuen kriminellen Schauplätzen. In der aktuellen Umfrage der Swico stuft die Hälfte der Befragten die Verbreitung digitaler Gewalt als problematisch ein. Erstaunt Sie das?
Nein, das erstaunt mich nicht. Viele Menschen leiden unter digitaler Gewalt oder wissen, dass sie selbst Täterinnen und Täter sind: Hassreden, Rassismus und Stalking sind gängige Beispiele. Soziale Medien haben das Problem verschärft, weil sich Gleichgesinnte auf den Plattformen einfach und schnell zusammenfinden und austauschen können. Dabei schliessen sich eher Täter als Opfer zusammen: Täter bilden einen Mob und nehmen einzelne Opfer ins Visier. Diese haben häufig keine andere Wahl, als sich aus der digitalen Öffentlichkeit zurückzuziehen.
Und dann ist man im Netz ja auch viel anonymer unterwegs.
Die Anonymität im Internet wird überschätzt. Jede Handlung, jeder Klick, alle besuchten Webseiten können gespeichert werden. Das Problem ist viel mehr, dass die meisten Taten ohne Konsequenzen bleiben und das merken die Täter und Täterinnen. Die Hemmschwelle, Recht zu verletzen, ist geringer im Internet.
Warum ist es so schwierig, die Täterinnen und Täter zu packen?
Laut Schweizer Recht liegt die Verantwortung für alle publizierten Inhalte bei den Plattformen selber. Das Problem aber ist, dass die grossen Plattformen wie Facebook, Telegram oder TikTok im Ausland sitzen. Das macht es Schweizer Behörden unmöglich, direkt gegen diese Anbieter vorzugehen. Ausländische Plattformen müssten endlich verpflichtet werden, mindestens ein Zustellungsdomizil in der Schweiz einzurichten. Ein solcher Briefkasten würde betroffenen Personen und Behörden viel Zeit sparen. Wir sprechen von Wochen oder Monaten in jedem einzelnen Fall.
Und was ist mit den Angriffen, die nicht auf sozialen Netzwerken stattfinden, sondern gezielt auf Unternehmen oder Behörden abzielen? Die Aufklärungsrate von Cyberangriffen lag im letzten Jahr nur bei knapp über 30 Prozent.
Im digitalen Raum lassen sich Spuren viel besser verwischen. Die Täterschaft kann als Zahlungsmittel Kryptowährungen verwenden oder durch die grenzüberschreitende Tätigkeit die Strafverfolgung erschweren. Selbst wenn klar ist, wer die Täter sind, kann es schwierig bis unmöglich sein, diese im Ausland zur Verantwortung zu ziehen. Schweizerische Strafverfolgungsbehörden sind auf ausländische Unterstützung angewiesen. Das wiederum kostet Zeit.
Das klingt, als würde die Gesetzgebung der sich rasch entwickelnden Digitalisierung hinterher hinken.
Nein. Das Problem liegt nicht in der Gesetzgebung, sondern in der Durchsetzung der bestehenden Gesetze. Die Verfahren dauern lange, die Ressourcen sind knapp und die internationale Zusammenarbeit funktioniert ungenügend. Hingegen ist es gut und wichtig, dass das Recht allgemein formuliert ist. Ein Gesetz, das zu stark an Einzelfällen ausgerichtet ist, kann langfristig nicht funktionieren. Vor 15 Jahren war MySpace die grösste Plattform. Hätte man spezielle Gesetze dafür eingeführt, würden diese für heutige Plattformen wie Discord, TikTok oder Twitch nicht mehr funktionieren.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Steiger. Eine Frage zum Abschluss: Wie schützen Sie sich im Netz?
Ich versuche, dem Grundsatz «zuerst denken, dann handeln», zu folgen. Viele Gefahren im digitalen Raum drohen, weil wir als Menschen ungeduldig sind. Einfacher gesagt als getan!