Schweiz

Schweizer Männer ärgern sich über Gender und «Wokeness» – warum?

Wahl-Thema Nummer 1

Schweizer Männer ärgern sich über Gender und «Wokeness» – warum?

13.07.2023, 06:03 Uhr
· Online seit 13.07.2023, 06:00 Uhr
Gender-Debatte und «Wokeness» sind für Schweizer Männer das Aufreger-Thema Nummer 1. Nicht aber für die Frauen. Das ergab das Wahlbarometer im Auftrag der SRG. Warum existiert dieser Geschlechtergraben? Und was ist das Problem der Schweizer Männer?
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Vergangenen Mittwoch erschien das Wahlbarometer im Auftrag der SRG. Das Forschungsinstitut Sotomo hat zwischen dem 8. und 22. Juni 25'216 wahlberechtigte Personen in der Schweiz zu ihren Wahlabsichten im Herbst 2023 befragt. Die Umfrage prognostiziert, wie die Parteien bei den diesjährigen Wahlen abschneiden.

«Gender-Debatte» ärgert vor allem Schweizer Männer

Erstmals hat das Forschungsinstitut Sotomo die Teilnehmenden gefragt, welche Themen und Ereignisse sie am meisten ärgern.

Dabei entstand folgende Rangliste:

  • Platz 1: CS Misswirtschaft/Boni (58 Prozent)
  • Platz 2: Klimakleber (51 Prozent)
  • Platz 3: Gender-Debatte und «Wokeness»* (50 Prozent)

Würde es nur nach den Schweizer Männern gehen, lägen die Debatte über Gender-Themen und die sogenannte «Wokeness» auf Platz 1 der Ärgernisse: 57 Prozent der befragten Männer nerven sich darüber.

Frauen finden Credit-Suisse-Misswirtschaft schlimmer

Bei den Frauen hingegen liegen «Gender-Debatte und ‹Wokeness›» mit 43 Prozent auf Rang 4. Die CS-Misswirtschaft nervt die Frauen deutlich mehr (62 Prozent). Bei den Männern liegt die CS-Misswirtschaft etwas hinter «Gender-Debatte und ‹Wokeness›» (55 Prozent).

Was sagen die Autorinnen der Studie zum Geschlechtergraben? Existiert dieser überhaupt? «Es gibt einen markanten Unterschied», bestätigt Michael Hermann, Leiter der Forschungsstelle Sotomo, im Gespräch mit der Today-Redaktion.

Männer fühlen sich von Frauenförderung herausgefordert

Hermann nennt zwei Gründe, warum sich Männer über Themen, die mit Gender und Gleichstellung zu tun haben, mehr nerven als Frauen: Einerseits existiere ein realer Machtkampf. Frauen würden vermehrt gefördert, in der Wirtschaft und in der Politik. «Das führt dazu, dass es Männer heute schwerer haben, ihre Ziele zu erreichen als noch von einigen Jahren», erklärt Hermann.

Die Männer fühlten sich herausgefordert und erlebten einen «Angriff auf ihre Vormachtstellung», so Hermann weiter. «Letztlich geht es um Frauenförderung und um eine verbesserte Repräsentation der Frauen. Das beeinträchtigt die Perspektiven der Männer.»

«Männer fühlen sich infrage gestellt»

Der zweite Punkt ist laut Hermann das Thema der sexuellen Identität. «Männer empfinden Nonbinariät mehr als Angriff auf ihre Männlichkeit als Frauen auf ihre Weiblichkeit.» Viele Männer sähen sich als Mann infrage gestellt. Frauen seien es sich gewohnt, fluider zu denken.

Dass sich Männer mehr über die «Gender-Debatte und ‹Wokeness›» nerven als über das CS-Debakel, findet Hermann bedenklich. «Die CS-Misswirtschaft hat eine enorme Tragweite. Viele Männer ärgern sich jedoch lieber über Rasta-Auftrittsverbote in einer Berner Bar.» Von der «Gender-Debatte und ‹Wokeness›» fühlten sich sie offenbar direkter betroffen, es gehe um die reale und symbolische Zurückstufung, so Hermann.

Der Politikwissenschaftler führt aus: «Männer fühlen sich und ihr Mann-Sein zurzeit infrage gestellt. Jahrhundertelang war das nicht der Fall.» Im Gegensatz dazu hätten sich Frauen schon ihr Leben lang mit ihrer Position und ihrem Rollenverständnis auseinandersetzen müssen.

«Gender-Debatte» ist moralische Panik

Hermann relativiert den Geschlechtergraben. Es herrsche zwar ein Unterschied zwischen Frauen und Männern, dennoch nerven sich auch 43 Prozent der befragten Frauen über «Gender-Debatte und ‹Wokeness›». Warum kochen die Emotionen bei diesem Thema so hoch?

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Hermann vergleicht die derzeitige Entwicklung mit den 68er-Jahren. «Damals ärgerten sich die Leute auch über die Hippies. Wenn sich die Gesellschaft ändert, hat man das Gefühl, alles gehe den Bach hinunter.» Das werde auch Moral Panic – moralische Panik – genannt.

Der Begriff «Moralische Panik» beschreibt eine übertriebene Reaktion auf Abweichungen von der sozialen oder moralischen Ordnung. Die Panik werde normalerweise von den Medien geschürt und von «führenden Persönlichkeiten oder Gruppen angeführt», schreibt der Online Dictionary of the Social Sciences. Moralische Paniken fänden Anklang, weil sie die Ängste der Menschen ansprächen.

In der Schweiz herrscht ein neuer Kulturkampf

In der Umfrage von Sotomo zeigt sich eine Asymmetrie. «Hetze gegen Minderheiten und Benachteiligte» nerven nur 29 Prozent der Befragten. Obwohl 2022 so viele Hate Crimes gegen LGBTIQ-Personen wie noch nie gemeldet wurden.

Die Befragten aus dem SRG-Wahlbarometer fühlen sich zwar von Themen rund um Gleichstellung, Gender und die sogenannte «Wokeness» provoziert, nicht jedoch in der Freiheit eingeschränkt. Nur 9 Prozent geben an, dass die Einschränkung der Freiheitsrechte und Meinungsfreiheit ein Problem sei.

Fakt ist laut der Studie: Die «Gender-Debatte und ‹Wokeness›» bewegt die Schweizer Bevölkerung. Das halten die Forschenden von Sotomo in ihrem Bericht fest: «Im neuen Kulturkampf stehen nicht mehr Migration und Aussenpolitik im Fokus, sondern Klimakleber, Gender und ‹Wokeness›.» Welchen Einfluss die Ärgernisse auf die Wahlen haben werden, wird sich im Herbst zeigen.

* Sotomo hat die Teilnehmenden der Umfrage gefragt: «Wenn Sie an aktuelle Ereignisse und Themen denken, was ärgert Sie besonders?» Die Antwortmöglichkeiten waren vorgegeben. «Gender-Debatte und ‹Wokeness›» war eine davon. In diesem Artikel wird diese Begrifflichkeit in Anführungszeichen übernommen.

(gin)

veröffentlicht: 13. Juli 2023 06:00
aktualisiert: 13. Juli 2023 06:03
Quelle: Today-Zentralredaktion

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