Ständig Nachrichten und viele schreckliche Bilder aus der Ukraine: Der Krieg lässt niemanden kalt. Viele in der Schweiz spüren den Drang zu helfen oder werden von Verunsicherung und Ängsten getrieben.
Was löst der Ukraine-Krieg in uns aus?
Matthias Herren, Berater der Dargebotenen Hand Zürich, bestätigt auf Anfrage, dass zurzeit sehr viele Anrufe im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg eintreffen. «Die Belastung, die der Ukraine-Krieg in der Bevölkerung auslöst, ist enorm spürbar», so Herren. Dies bestätigt Jan Holder, Psychiater der Poliklinik Zürich (Stadtärztlicher Dienst). «Wir nehmen eine sehr starke Beschäftigung mit dem Thema wahr. Der Ukraine-Krieg löst Verunsicherung aus und wird in laufenden Therapien thematisiert», so der Psychiater. Die Verunsicherung führe zu Blockaden im Denken, Verstärkung von Grübeltendenzen, Vermeidungsverhalten und Schlafstörungen. «Es kommt das Gefühl auf, ausgeliefert zu sein. Es ist eine Ohnmacht, die eintritt».
Holder erklärt, dass es zu Zukunfts- und Existenzängsten komme. «Man hat gedacht, man hat alles überwunden nach dem Fall der Mauer. Nun erleben wir die schwerste politische und militärische Krise in Europa seit dem zweiten Weltkrieg.» Holder führt aus, dass es sich dabei um weniger konkrete Ängste handle, sondern vielmehr um eine allgemeine Verunsicherung durch Bedrohung. Ähnliches berichtet Matthias Herren über die Anrufer bei der Dargebotenen Hand. Oftmals seien es diffuse Ängste, welche die Anrufer belasten. Die Menschen wollen laut Herren über die Drohung des Atomkriegs sprechen, «Ängste und Aggressionen werden aber auch durch die Person Putin ausgelöst».
Das Fass ist voll
Laut Holder sind alle Menschen betroffen von der Krise, jedoch insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund mit familiären Banden in die Ukraine oder in den osteuropäischen Raum. «Auch werden ältere Menschen, die hinter dem ‹Eisernen Vorhang› aufgewachsen sind, nun wieder an bittere und traurige Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend erinnert», sagt Holder. Auch Herren berichtet von Anrufern, die sich zum Kalten Krieg zurückgeworfen fühlen und darum besonders Mühe haben mit der Verarbeitung der aktuellen Geschehnisse.
Beide Befragte sagen, dass es besonders hart Menschen treffe, die bereits in vulnerablen Situationen leben. Also Personen, die bereits belastet sind oder sonst mit Ängsten kämpfen. «Die Belastung aufgrund des Ukraine-Kriegs ist häufig ‹on the top›. Das kommt zu sonstigen persönlichen Ängsten oder psychischen Leiden dazu», so Herren. «Es ist ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es ist ein wichtiges Thema für unsere Patienten», sagt Holder.
Was hilft, mit der schwierigen Situation umzugehen?
Als Unterstützung werde an der Psychiatrischen Poliklinik Zürich (Stadtärztlicher Dienst) Sicherheit vermittelt und der Krieg in einen realistischen Kontext gesetzt, sagt Holder. Weiter würden die Menschen dazu aktiviert werden, sich um ihre eigenen Ängste zu kümmern. «Wie komme ich aus der Ohnmacht heraus? Kann ich an Kundgebungen und Benefiz-Konzerten teilnehmen oder spenden? Wie kann ich mich engagieren?». Solche Fragen empfiehlt Jan Holder, sich zu stellen. Es sei wichtig, Strategien zu entwickeln, um mit den Ängsten, aber auch mit allfälliger Panik umzugehen.
«Wir sind da und geben Raum. Wir hören aktiv zu und haben Verständnis», erklärt Herren. Als Mitarbeiter der Dargebotenen Hand weise er die Anrufer darauf hin, dass Gefühle angesprochen werden dürfen. «Wir fragen nach Strategien, wie sie in anderen Fällen mit Angst umgegangen sind. Wie können sie auch wieder Distanz zur Angst finden?».
Tipps für dich
Jeder dürfe sich eingestehen, dass die Situation belastend ist, und dass es schon lange nicht mehr eine solche Situation gegeben hat, hält Holder fest. Hast du im Alltag Mühe, mit den Ängsten im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg umzugehen? Folgende Tipps rät dir Matthias Herren:
- Finde eine gute Balance. Du kannst nicht den ganzen Tag in der Thematik drin stecken, aber auch nicht alles komplett ausblenden.
- Halte deinen Medienkonsum dosiert und möglichst breit. Nicht zu viel und nicht nur von etwas.
- Sprich mit anderen Personen. Wende dich insbesondere an Menschen, die dafür Verständnis haben.
- Verschaffe dir freie Inseln. Es ist wichtig, dass du raus gehst, ein Buch liest oder einer sonstigen Tätigkeit nachgehst.
Wie gehen wir mit den Kriegsnachrichten um und wie können wir uns schützen? Experten diskutieren im «TalkTäglich».
Quelle: TeleZüri