Während sich die Strassenprofis nach einem intensiven Herbst gerade in die Winterpause verabschieden, befindet sich der Bahnradsport seit den Weltmeisterschaften von Ende Februar im Standby-Modus. Erst mit den Europameisterschaften von dieser Woche wird die olympische Sportart wieder zu neuem Leben erweckt. Könnte man meinen. Denn nach den Titelkämpfen in Plovdiv im Süden Bulgariens ist bereits wieder Schluss. Weltcuprennen finden in diesem Winter keine statt. Nicht wegen der Pandemie-Restriktionen, sondern weil der Weltverband UCI gerade daran ist, das Profil der Sportart zu schärfen. Der Bahn-Kalender wird komplett auf den Kopf gestellt.
Das herkömmliche Weltcup-Format mit bislang sechs Terminen wird ab 2021 durch den Nations' Cup ersetzt, eine Serie von drei Wettbewerben, deren Premiere Ende April in Newport im Süden von Wales geplant ist. Weitere Stationen sind Mitte Mai Hongkong und Anfang Juni Cali in Kolumbien. Die WM-Medaillen werden ab dem nächsten Jahr nicht wie gewohnt im Februar, sondern erst im Oktober in Turkmenistan vergeben, also nach den verschobenen Sommerspielen in Tokio.
Ebenfalls geplant ist für Ende 2021 die Einführung einer Champions League. An sechs aufeinanderfolgenden Wochenenden im November und Dezember sollen sich jeweils die besten Männer und Frauen aus den vier Disziplinen Sprint, Keirin, Ausscheidungsfahren und Scratch duellieren. Um das Konzept TV-freundlich zu halten, werden die einzelnen Events auf zwei Stunden gekürzt.
Fehlende Wettkampfperspektive
Noch ist nicht absehbar, wie sich all diese Neuerungen auf die Entwicklung des Bahnradsports auswirken. Ob beispielsweise die Verlegung der Weltcuprennen vom Winter in den Sommer mehr Nach- als Vorteile generiert, weil es zu einer Überscheidung mit der Strassen-Saison kommt.
Klar ist, dass der Zeitpunkt dieser Umstellungen wegen der Corona-Pandemie für die Athletinnen und Athleten gleich doppelt ungelegen kommt. Aktuell fehlt es an Wettkämpfen, nicht nur international, auch national. Auf der offenen Rennbahn in Zürich Oerlikon, wo sich sonst im Sommer wöchentlich die nationale Bahn-Elite trifft, konnten heuer keine Rennen stattfinden. Vereinzelt wurden in Grenchen, dem Trainingsstützpunkt von Swiss Cycling, in Aigle oder Genf nationale Rennen ausgetragen. Auch die Durchführungen der wenigen noch verbliebenen Sechstagerennen stehen auf der Kippe.
Die fehlende Wettkampfperspektive stellt die Sportler deshalb vor grosse Herausforderungen. Plötzlich fehlt die Bestätigung, die im Training erworbenen Fähigkeiten auch im Ernstkampf umsetzen zu können. Das kann mittel- oder langfristig auf die Moral schlagen.
Muss man sich deswegen Sorgen machen um die Marc Hirschis und Stefan Küngs der Zukunft? Beat Müller, der Leistungssportchef von Swiss Cycling, bedauert zwar die aktuelle Situation, er betont jedoch: «Grundsätzlich können wir die Wettkampfsituationen auch im Training simulieren. Es geht primär darum, Leistungsvoraussetzungen zu schaffen.» Gerade bei Nachwuchsathleten bestünde aber schon die Gefahr, dass sie vergessen, worauf sie eigentlich hinarbeiten, wenn sie über längere Zeit keine Rennen mehr bestreiten. «Grossanlässe dienen uns deshalb auch immer als Aufhänger, um Trainingsinhalte zu vermitteln.»
Taktische und technische Kniffs
Müller zweifelt nicht daran, dass der Bahnradsport auch in Zukunft eine wichtige Rolle in der Ausbildung junger Schweizer Radtalente einnehmen wird. «Gerade, weil auf der Bahn Aspekte wie die Aerodynamik oder das Pacing, das Einteilen des Tempos und der Energiereserven, in Reinkultur verbessert oder geübt werden können.»
Auch Bahn-Nationaltrainer Daniel Gisiger sieht mehrere Vorteile, weshalb sich Athleten auf der Bahn besser entwickeln können. Einerseits taktisch, weil es auf der Bahn häufiger zu Sprints kommt als auf der Strasse. «Auf der Strasse gibt es ganz am Schluss einen Sprint, auf der Bahn alle zehn Runden. Dadurch lernen die Fahrer, das Rennen besser zu lesen», erklärt Gisiger. Andererseits können technische Fortschritte erzielt werden, weil das Bahnvelo keine Gänge besitzt. «Dadurch ist die Trettechnik entscheidend, um richtig zu beschleunigen oder mit den vielen Rhythmuswechseln klarzukommen.»
Stillstand ist definitiv keine Option. Weder für den einzelnen Athleten noch für den Bahnradsport im Allgemeinen. Mit der am Mittwoch beginnenden EM kehrt ein bisschen Normalität zurück. «Es ist wichtig, dass man zeigt, dass der Bahnradsport noch lebt», lautet Gisigers Appell an jene Sportart, die sich per se im Kreis dreht.
Ausgedünntes Teilnehmerfeld an der EM
Aufgrund der Corona-Pandemie haben lange nicht alle Nationen ihre Teams in die zweitgrösste Stadt Bulgariens entsandt. Deutschland und Frankreich verzichten beispielsweise freiwillig auf eine Teilnahme, Italien musste nach mehreren Corona-Fällen einen (Teil-)Rückzug anordnen. Das Teilnehmerfeld bei den Frauen dürfte indes einiges stärker besetzt sein als jenes bei den Männern.
Auch die Schweizer Nationaltrainer Daniel Gisiger und Mickael Bouget können beim ersten internationalen Treffen der Bahn-Elite seit über acht Monaten nicht aus dem Vollen schöpfen. Mit Théry Schir, Cyrille Thièry, Robin Froidevaux, Mauro Schmid, Alex Vogel und Stefan Bissegger fehlen bewährte Kräfte im Schweizer Aufgebot. Der Bahnvierer, das Aushängeschild von Swiss Cycling, tritt deshalb in stark veränderter Besetzung an. Mit Dominik Bieler kommt ein 19-jähriges Talent zum Einsatz, welches im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2024 in Paris aufgebaut werden soll.