Die letzte Woche einer Vorbereitungsphase kommt für Fussballprofis immer einer Erleichterung gleich: Nach dem schweisstreibenden Erarbeiten der physischen und konditionellen Basis kehrt man endlich zum Wettkampfmodus zurück, verabschiedet sich mehrheitlich von Krafträumen und Laufbändern und trainiert stattdessen gezielt für das nächste Spiel.
Vor der am Samstag startenden Super-League-Saison dürfte die Vorfreude bei den Akteuren noch grösser sein als sonst, schliesslich dürfen sie erstmals seit Oktober 2020 wieder vor mehr als 100 Zuschauerinnen und Zuschauern spielen. Und wenn dann – wie im Falle von St.Gallens 2:1-Sieg gegen den spanischen Pokalfinalisten Athletic Bilbao – auch noch die Hauptprobe glückt, steigt man erst recht beflügelt in die neue Spielzeit.
Für Peter Zeidler ist es bereits die vierte Saison als Espen-Trainer. Er sagt: «Der Sieg gegen Bilbao und vor so vielen Zuschauern machte Lust auf mehr. Wir haben auch in diesem Sommer wieder eine neue Mannschaft, allerdings mit derselben Spielidentität wie bis anhin.»
Genua baggert weiter an Stergiou
Mit Miro Muheim (HSV), Jordi Quintillà (Basel) und Salzburg-Leihgabe Junior Adamu musste sich Zeidler in der Sommerpause von drei seiner Leistungsträger verabschieden. Weil das Transferfenster bis Ende August offen ist, könnte es in seinem Kader noch weitere Mutationen geben.
Besonders fraglich ist der Verbleib von Abwehrboss Leonidas Stergiou (19), für den – so hört man – der Serie-A-Club FC Genua weiterhin alle Hebel in Bewegung setzt.
Während Sportchef Alain Sutter über den Sommer durchgearbeitet hat und sich erst in der Länderspielpause Anfang September Ferien gönnen wird, bleibt Zeidler pragmatisch: «Klar ist es nicht so einfach, wenn man keine 100-prozentige Planungssicherheit hat. Ich wünsche mir natürlich, dass Leo bleibt, weiss aber auch, dass sich viele andere Vereine für ihn interessieren.»
Überdies ehre das konkrete Interesse aus Italien, das natürlich auch Zeidler nicht verborgen blieb, nicht nur den Spieler, sondern auch die Arbeit im FC St.Gallen.
Wer die Lücken schliesst
Alles in allem scheint der Aderlass an Stammspielern nach dem Vizemeistertitel 2020 grösser gewesen zu sein als in diesem Sommer. Und Peter Zeidler hat bereits eine klare Vorstellung davon, wer die Lücken schliessen soll, die Muheim hinten links, Quintillà im defensiven Mittelfeld und Adamu im Angriff hinterlassen.
«Ousmane Diakité und Fabian Schubert sind Spieler mit Startelf-Potenzial, die zudem die Identität unterstreichen, mit der wir spielen wollen», so Zeidler. Diakité ist eine 20-jährige Leihgabe von RB Salzburg, ein grossgewachsener Sechser mit beeindruckender Physis, der zudem das Spiel gestalten kann, wie man dies von Quintillà gewohnt war. Und: Er scheint sich von seinem Kreuzbandriss im Herbst 2019 gut erholt zu haben.
Der 26-jährige Schubert kommt mit der Empfehlung von 33 Toren in Österreichs zweithöchster Liga und bringt neben Torgefahr auch Führungsqualitäten mit, schliesslich trug er bei Aufsteiger Blau-Weiss Linz nicht selten die Captainbinde.
Das Muheim-Erbe dürfte Michael Kempter (26) antreten, ein Linksfuss, der in der vergangenen Saison bei Xamax in der Challenge League überzeugte und überdies Wert auf die englische Aussprache seines Vornamens legt.
Erfolgs- und Liebesgeschichten
Wenn Peter Zeidler über Spieler wie Betim Fazliji oder Stergiou spricht, benutzt er gerne den Terminus «Erfolgsgeschichte», weil es sich um Spieler handelt, die die St.Galler selbst ausgebildet haben und die zu unverzichtbaren Säulen gereift sind. Potenzial für weitere Erfolgsgeschichten gibt es nur schon deshalb, weil mit David Jaćović (20), Christian Witzig (20), Patrick Sutter (22) und Alessio Besio (17) gleich vier Nachwuchsspieler mit Profiverträgen ausgestattet wurden.
Von den neuen «Jungen Wilden» könnte besonders Teenager Besio herausragen – womöglich bringt ihn Zeidler am Samstag in Lausanne (20.30 Uhr) gar von Beginn weg. Der Trainer sagt: «Es ist kein Zufall, dass er bei seinem Super-League-Debüt gegen Servette und auch gegen Bilbao getroffen hat. Ich möchte seine Entwicklung auch gar nicht bremsen. Wenn er spielt, dann deshalb, weil er es sich verdient hat.»
Eine Liebesgeschichte ist zudem jene zwischen dem FC St.Gallen und seinem neuen Captain Lukas Görtler. Der 27-jährige Deutsche hat seinen Vertrag in der Ostschweiz bis 2026 verlängert, er ist Identifikationsfigur und Herz dieser Mannschaft zugleich. Daneben hebt Zeidler aber auch Víctor Ruiz hervor, der den Rhythmus des Spiels bestimme und verweist auf die wichtige Erfahrung von Spielern wie Basil Stillhart (27) und Nicolas Lüchinger (26).
Sparsam und doch konkurrenzfähig
Schon vor dem Saisonstart ist damit klar: Diese Espen könnten viel Freude bereiten und brennen auf die ersten Ernstkämpfe. Gemessen an den finanziellen Möglichkeiten sind die Ostschweizer allerdings Aussenseiter, nach dem Abstieg des FC Vaduz wird wohl kaum eine Mannschaft mit weniger Geld wirtschaften wie die Zeidler-Truppe.
Die Espen haben das sparsame und clevere Einsetzen finanzieller Ressourcen in der Vergangenheit jedoch schon fast zur Kunstform erhoben und dabei eindrücklich unter Beweis gestellt, dass sie dennoch konkurrenzfähig sein können. Die Rückkehr der Fans in die Stadien dürfte die Ostschweizer zusätzlich beflügeln, denn anders als bei den Finanzen gehört der FC St.Gallen in Sachen Zuschaueraufkommen zu den Spitzenteams der Super League.
Im Wissen, dass die Hausaufgaben gemacht wurden, darf man sich durchaus auf die neue Reise der Espen freuen – auch wenn man, wie jeden Sommer, noch abwarten muss, um zu erkennen, wohin sie führt.