Ein selbsternannter Religionsanführer, eine unterklassige brasilianische Mannschaft und nordkoreanische Propaganda: Das sind die Zutaten für eines der denkwürdigsten Freundschaftsspiele der Fussballgeschichte.
Was ist passiert?
«PRK 0-0 BRA». So steht es an jenem Novembernachmittag im Jahr 2009 auf der Anzeigetafel: Nordkorea gegen Brasilien. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Denn das Team, das hier gegen die Nationalmannschaft von Nordkorea antritt, kommt zwar aus Brasilien, hat aber mit der Seleção herzlich wenig zu tun.
Es wäre auch eine Sensation gewesen, hätte die brasilianische Nationalmannschaft ein Freundschaftsspiel im Kim-Il-Sung-Stadion abgehalten.
Nur: Wer stand denn jetzt auf dem Platz? Wer trat für Brasilien an? «Wir waren nur eine brasilianische Mannschaft, die gelb trug», sagt Waldir Cipriani, einer der Organisatoren des Spiels, gegenüber dem «Athletic». Die «Brasilianer» waren Atletico Sorocaba, ein kleines Team aus Teilzeitkickern aus einer Stadt rund 80 Kilometer nordwestlich von Sao Paulo.
Der südkoreanische «Reverend Moon»
Wenn man wissen will, wie es zu diesem kuriosen Spiel kam, muss man ein paar Jahre zurückreisen. In Sorocaba gibt es zwei Mannschaften, Sao Bento mit langer Geschichte und sogar einer Achtelfinalteilnahme in der brasilianischen Meisterschaft im Jahr 1979 und Atletico Sorocaba, das erst in den 1990er-Jahren gegründet wurde und nie höher als in der dritten Liga spielte.
Sorocaba ist aber nicht nur eine Stadt mit zwei Fussballmannschaften. Sie war ein wichtiger Ort für die Vereinigungskirche des Südkoreaners Sun Myung Moon, der sich selbst als Messias sah.
Moon und seine Organisation war äusserst einflussreich, zu seiner Tongil Group gehörten Rüstungsunternehmen, Pharma, Restaurants und Zeitungen. In Brasilien kaufte Moon viel Land und wollte darauf eine Modellgemeinde gründen. Tausende Südkoreaner siedelten in die Region.
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Waldir Cipriani, der ebenfalls der Kirche angehörte, konnte Moon davon überzeugen, Atletico zu kaufen. Gegenüber dem «Athletic» sagt er: «Moon glaubte, dass der Fussball das Heilmittel gegen den menschlichen Hass sei. Er sagte immer, dass man seinen Feind vergisst, wenn man einem Ball hinterherläuft.»
Mit dem Geld des «Reverend Moon» kam für Atletico der Aufschwung – die Kicker bekamen einen topmodernen Trainingskomplex, den später sogar Algerien für die WM 2014 in Brasilien nutzte. Und durch die Verstrickungen mit der Vereinigungskirche kam es zu mehreren Spielen für Atletico in Südkorea. Aber Nordkorea? Das war eine ganz andere Nummer.
Brasilien auf Kuschelkurs mit Nordkorea
Entscheidend dabei war, dass sich Nordkorea für die WM 2010 qualifizierte. Die Mannschaft musste Erfahrungen sammeln. Was bietet sich da besser an, als ein Team aus Brasilien, ein Land in dem Fussball zelebriert wird?
Nur gab es da einige Hindernisse. Kein Land wollte sich die Mühe machen, nur für 90 Minuten die Visa für Nordkorea zu beschaffen. Ausserdem war es nicht gerade ein besonders attraktiver Gegner.
Damit kommen wir zurück zu Sun Myung Moon. Er kam 1920 in der Region zur Welt, die später Nordkorea wurde. 1948 war er in einem nordkoreanischen Arbeitslager inhaftiert, erst während des Koreakriegs kam er nach Südkorea. Trotz dieser Erfahrungen pflegte er eine enge Beziehung zu Kim Il-Sung, dem Diktator Nordkoreas von 1948 bis 1994.
Nebst der WM-Teilnahme Nordkoreas spielte ein weiterer Faktor eine Rolle: Brasilien pflegte unter dem Präsidenten Lula da Silva gute Beziehungen zu Nordkorea. Da Silva eröffnete dort eine Botschaft, Nordkorea war bereit für eine brasilianische Mannschaft.
«Ein mit Sekundenkleber zusammengeklebtes Flugzeug»
Atletico war für die Saisonvorbereitung für einige Testspiele in China und Südkorea unterwegs. Erst während dieser Reise wurden ihre Visa für Nordkorea genehmigt.
«Meine erste Reaktion war Schock und Angst», sagt Leonardo Silva, der damals als Verteidiger bei Atletico spielte. Und die Reise nach Pjöngjang war nicht gerade angenehm. Silva berichtet, wie Koffer auf dem Dach des Flugzeugs festgeschnallt waren, «es war ein hässliches, schäbiges, altes Ding». Gegenüber GloboEsporte sagt Sidnei Gramatico, der Masseur der Mannschaft: «Haben Sie jemals ein mit Sekundenkleber zusammengeklebtes Flugzeug gesehen? Ich schon.»
Die Stadt selbst war dann kaum besser. Die ganze Reise war von der Diktatur organisiert. Silva: «Wir konnten nichts ohne Begleitung tun. Wenn man auf die Toilette ging, folgte einem jemand.»
Erst im Luxushotel kam Stimmung auf, es gab ein riesiges Bankett, danach wurde gesungen und bis 22 Uhr wurden Kartenspiele veranstaltet – bis der Strom ausfiel.
Versöhnliches Unentschieden
Am Tag des Spiels dann die Überraschung: Ein voll besetztes Stadion, je nach Erzählung zwischen 50'000 bis 80'000 Leute. Die Propaganda war klar: Nordkorea kann Brasilien schlagen – natürlich wurde dem Publikum nicht gesagt, dass hier eine bessere Hobby-Mannschaft antritt.
Silva: «Wir sagten uns: ‹Wenn wir dieses Spiel gewinnen, kommen wir hier vielleicht nicht mehr lebend raus.› Es war ein Stadion voller Soldaten!» Das Publikum jubelte, wenn Nordkorea den Ball hatte, wenn Atletico in Ballbesitz war, war Totenstille.
Das Spiel endete 1:1. Zum Dank lud Moon alle Spieler zu einem Festessen ein und betonte, dass die Nordkoreaner sehr wütend gewesen wären, wenn Atletico gewonnen hätte.
Dass diese Reise und das Testspiel so gut dokumentiert sind, ist darauf zurückzuführen, dass nur einen Monat später Brasilien und Nordkorea in die gleiche WM-Gruppe ausgelost wurden. Alle brasilianischen Medien wollten Interviews mit den Atletico-Akteuren. Sogar der Nationaltrainer Dunga setzte sich mit ihnen in Verbindung. Silva: «Mein Telefon klingelte ununterbrochen. Als ich das WM-Spiel im Fernsehen sah, hab ich meinen Freunden gesagt: ‹Von dem Kerl hab ich das Trikot!›»
Atletico reiste später weitere dreimal nach Nordkorea, 2016 löste sich der Club auf, nachdem die finanzielle Unterstützung nach dem Tod Moons versiegt war.