Als Carlo Ancelotti im letzten Sommer nach Madrid zurückgekehrt war, lag Real zwar nicht am Boden, doch die Königlichen hatten eine titel- und damit für ihr Selbstverständnis erfolglose Saison hinter sich. In der Meisterschaft zog der Rekordmeister im Vergleich mit dem Stadtrivalen Atlético den Kürzeren, in Europa gehörte Real seit 2018 nicht mehr zur Crème de la Crème.
Mit dem damals vollendeten Hattrick hatte die Hegemonie der Königlichen in der Champions League geendet. Cristiano Ronaldo verliess den Verein, Trainer Zinédine Zidane auch, der Absturz folgte. Der Franzose, der Baumeister der Titel 2016 bis 2018, kehrte zwar später auf die Trainerbank zurück, schaffte es aber nicht ganz, den alten Glanz zurückzubringen.
Erst unter Carlo Ancelotti wird Real den eigenen hohen Ansprüchen wieder gerecht. Nach zwei verlorenen Achtelfinals und dem Scheitern 2021 im Halbfinal ist der spanische Meister in dieser Saison kurz vor der neuerlichen Erklimmung des europäischen Gipfels. Auch Ancelotti selber fand in Madrid zu alter Stärker zurück, nach - für die Verhältnisse des Italieners - gescheiterten Engagements bei Bayern München, wo er 2017 immerhin Meister wurde, Napoli und Everton.
Fünfter Final, vierter Titel?
Dank der souverän gewonnenen Meisterschaft ist Ancelotti der erste Trainer, der in jeder der fünf europäischen Top-Ligen Meister wurde. Und in Paris winkt dem bald 63-Jährigen am Samstag eine weitere Bestmarke. Gewinnt Real, wäre es Ancelottis vierter Titel in der Champions League. Zweimal triumphierte er mit der AC Milan, das dritte Mal in seiner ersten Amtszeit bei Real (2014).
Bereits damals mit dabei war neben Luka Modric und Dani Carvajal auch Karim Benzema. Der französische Stürmer spielt die Saison seines Lebens. 15 Tore schoss der 34-Jährige in dieser Kampagne, zehn allein in den letzten fünf K.o.-Spielen. Angeführt von ihrem überragenden Captain entwickelten sich die Madrilenen zu Entfesselungskünstlern.
Gegen Paris Saint-Germain, Chelsea und Manchester City schaffte Real mit dem Rücken zur Wand doch noch die Wende. Vor allem im Halbfinal deutete kurz vor Schluss im Bernabeu nichts mehr auf einen Finaleinzug hin, ehe ein Doppelschlag von Rodrygo kurz vor und nach Beginn der Nachspielzeit eine Verlängerung nötig machte, in der Real den dritten rein englischen Final in den letzten vier Jahren verhinderte.
Liverpool: An der Spitze festgesetzt
«Wenn man die letzten zwei Minuten eines jeden Real-Spiels nimmt, dann sind sie unschlagbar», sagte Liverpools Trainer Jürgen Klopp, der als erster deutscher Trainer zum vierten Mal im Final steht. «Zum Glück gibt es noch 88 Minuten davor. Und wir stehen auch nicht durch Zauberei im Finale. Wir haben es uns auch verdient.»
Beim ersten Versuch 2018 waren Klopps «Reds» beim Sturm auf den europäischen Thron noch von Real gestoppt worden. In Erinnerung geblieben von diesem Endspiel in Kiew sind vor allem die zwei Patzer von Liverpool-Keeper Loris Karius sowie die Doublette von Gareth Bale, wobei der Waliser das 2:1 per Fallrückzieher erzielte.
2019 holten die «Reds» in Madrid Verpasstes nach, 2020 beendeten sie mit dem englischen Meistertitel eine dreissigjährige Durststrecke. Und nach einer durchzogenen Saison schaffte es Klopp, sein Team wieder in die Spur zu bringen. Nach dem hauchdünn verlorenen Titelrennen und den Triumphen im Ligacup und im FA Cup würde der neuerliche Gewinn der Champions League aus einer sehr guten, eine herausragende Saison machen.
Kein klarer Favorit
Im Gegensatz zu 2018 gibt es keine klare Rollenverteilung. Der Weg in den Final spricht für Real. Während die Königlichen den Titelverteidiger sowie den englischen und französischen Meister ausschalteten, hatte Liverpool mit Inter Mailand, Benfica Lissabon und Villarreal kleinere Kaliber aus dem Weg zu räumen. Der Final hätte ursprünglich in St. Petersburg stattfinden sollen, wurde aufgrund des Krieges in der Ukraine aber nach Paris verlegt.
Auch die Statistik spricht für Real Madrid, das noch keinen seiner sieben Champions-League-Finals verloren hat. Die letzte Niederlage im Final des wichtigsten Klubwettbewerbs erlitten die Königlichen 1981 - gegen Liverpool. Für Ancelotti ist klar: «Am Ende wird die Mannschaft mit mehr Mut und Persönlichkeit gewinnen.»