Mit einem «Oje» beginnt Jürg Röthlisberger seine olympischen Erinnerungen zu ordnen. «Es gibt Dinge, die ewig bleiben und Sachen, die vergessen gehen. Meine Wettkämpfe habe ich vergessen. Da weiss ich nicht mal mehr genau, wann ich welchen Gegner hatte. Erinnerungen an das olympische Dorf und an Begegnungen mit anderen Sportlern sind aber geblieben.» 1976 in Montreal habe er an einem Tisch mit jungen rumänischen Turnerinnen gesessen, die ihre Puppen dabei hatten, fällt ihm ein. «Solche Eindrücke blieben haften.»
Geblieben sind auch die Gefühle, die seine beiden olympischen Medaillen, die bronzene in Montreal und die goldene 1980 in Moskau, ausgelöst haben. Auf ganz unterschiedlichen Wegen kam er zu diesen Auszeichnungen: Die erste errang er als 21-Jähriger als Leichtester der 93-kg-Gewichtsklasse völlig überraschend. «Diese hatte niemand erwartet - ich auch nicht. Das war emotional einmalig. Eine Medaille aus dem Nichts heraus.» Moskau sei dagegen Arbeit gewesen.
Der Olympiasieg war das Meisterstück mit Ankündigung. Vier Jahre lang arbeitete er auf das eine Ziel hin: «Man muss sich so vorbereiten, dass man am Schluss sagen kann: ‹Mehr geht nicht›.» Aus dem Tritt hätte Röthlisberger schon vor dem Tag X kommen können. Denn wegen des Boykotts vieler westlicher Länder war seine Teilnahme einige Zeit unsicher. Das Okay für die Reise nach Moskau kam während der Vorbereitung in Japan, erinnert er sich. «Ich hätte das Trainingslager abgebrochen, wenn es geheissen hätte: ‹Nein›.»
Einige Zeit lang ging die Angst um, dass das ganze Training für nichts gewesen war. «Das ganze sportliche Leben ist auf die Olympischen Spiele ausgerichtet. Wenn man Dritter geworden ist, will man nachher gewinnen. Wenn man gesagt hätte: ‹Du darfst nicht gehen, erst 1984 wieder.› Das wäre tragisch gewesen.» Die speziellen Umstände in Moskau - der Start unter olympischer Flagge und das Fehlen der Schweizer Hymne bei der Siegerehrung - habe ihn im Moment nicht gestört. «Wenn man gewonnen hat, zählen andere Dinge.»
Die Krönung und der Rücktritt
Der Weg zum Sieg vor fast genau 40 Jahren ist Röthlisberger noch bruchstückhaft in Erinnerung. Einige Kampfsequenzen kann er vor dem geistigen Auge noch abrufen, speziell eine im Halbfinal gegen den für die Sowjetunion startenden Letten Alexander Jackevics. «Bei einem Bodenkampf gab es eine kritische Situation. Das war ganz knapp.» Diese Szene sei in den Erinnerungen in ihrer ganzen Komplexität eingraviert.
Röthlisberger behielt gegen den zweifachen Europameister Jackevics aber wie in allen anderen Kämpfen am Tag X die Übersicht. Alles verlief nach Plan in der erst 1977 eingeführten 86-kg-Gewichtsklasse, die ihm bestens entsprach. Im Final im Lenin-Sportpalast, der heute nach dem Stadtteil Luschniki benannt ist, räumte er im Final mit dem Kubaner Isaac Azcuy den letzten Gegner aus dem Weg. Er verteidigte eine nach wenigen Sekunden herausgeholte Wertung erfolgreich über die sieben Kampfminuten.
Für den Zürcher bedeutete der Sieg in erster Linie: «Ziel erreicht». «Ich war im ersten Moment einfach zufrieden und verspürte eine innere Zufriedenheit.» Weil er von seinem Olympiasieg auch finanziell etwas profitieren wollte, kündigte Röthlisberger bald nach dem Triumph seinen Rücktritt an. «Es war die einzige Möglichkeit, mit Werbung etwas Geld zu verdienen», begründete der damals junge Familienvater seinen frühen Abschied vom Spitzensport. «Wenn ich gewusst hätte, dass 1984 die Regeln im Amateursport ändern würden, hätte ich wohl noch vier Jahre weitergemacht.»
Für einen ansonsten wenig beachteten Judoka sei es das Grösste, Olympiasieger zu werden. «Da wird man auch 40 Jahre danach noch angerufen», lacht Röthlisberger, der seit sieben Jahren im südspanischen Malaga wohnt. Nach der Frühpensionierung zog es ihn in die andalusische Stadt, die er als Teenager schätzen gelernt hat. «Dort bestritt ich als junger Judoka zwischen Weihnachten und Neujahr jeweils ein Turnier. Jedes Mal hatte es hier 20 Grad. Da habe ich mir gesagt, irgendwann komme ich hierher zum Leben. Mein Bezug war auch hier das Judo.»