Da fällt einem der Kinnladen runter: «Diese Medaille behalte ich nicht. Ich schenke sie Edi Telser», sagte Marlen Reusser wenige Minuten, nachdem sie mit der Silbermedaille um den Hals vor das Mikrophon trat. Mit den drei Mountainbike-Frauen am Dienstag und nun mit ihr sei der Nationaltrainer der Baumeister der vier Erfolge. «Diesen Mann muss man auszeichnen, ich gebe ihm meine Medaille!» Im Übrigen sei sie ja nicht mehr 15 Jahre alt und könne noch eine Wand mit ihren Auszeichnungen füllen, meinte die 29-jährige Quereinsteigerin. «Dann fange ich besser gar nicht mit dem Sammeln an.»
Edi Telser der Medaillenmacher schüttelte nur den Kopf. «Das ist super crazy. So wie Marlen eben ist. Sie kommt oft mit Ideen, die man dann korrigieren muss. Das mit der Medaille ist so eine», sagte er. Und mit ernsterer Miene meinte er. «Eine Medaille verschenken, die man selbst gewonnen hat, das kann man nicht machen. Das nehme ich nicht an, und das kann man nicht annehmen.»
Geduld gefragt
Marlen Reusser, die sich vor fünf Jahren beim zuvor letzten olympischen Strassenzeitfahren noch gar nicht für den Radsport interessiert hatte und vor ein paar Jahren den Ärztekittel gegen den Sportdress tauschte, hat dem Südtiroler allerdings viel zu verdanken. Speziell erwähnt sie den Umgang Telsers mit ihren Problemzonen. «In den Abfahrten bin ich oft angsterfüllt, komme emotional an die Limite, weine. Edi weiss dann genau, wie er mich abholen muss. Und er hat viel, sehr viel Geduld mit mir», fügte sie an.
Der Südtiroler nimmt die Komplimente gerne entgegen. «Marlen ist eine Quereinsteigerin. Sie braucht Unterstützung von A bis Z». Die Bernerin kenne die Mechanismen im Radsport im Gegensatz zu Fahrerinnen, die in der Szene gross geworden sind, nicht. «Der Arbeitsaufwand mit ihr ist doppelt so gross.» Er und sein Team würden viele Puzzle-Teile zusammenfügen. «Es ist nicht ein Schlüsselelement, das sie zum Champion gemacht hat.»
Mit Blick auf den Olympia-Parcours habe man viel in die Kurventechnik bei den Abfahrten investiert. «Bei hohen Geschwindigkeiten fand Marlen oft den Bremspunkt nicht und wusste auch nicht, wann wieder loslassen.» Und auch der normale Tagesablauf im Spitzensport sei für Marlen Reusser schwierig. «In diesem Bereich braucht sie fast mehr Input als im Training. Marlen ist ein Typ, den man zwischendurch einbremsen muss. So wie jetzt wieder mit der Idee, die Medaille zu verschenken.»
Ein paar Tränen verdrückt
Der Redefluss von Marlen Reusser ist manchmal ungebremst, es sprudelt nur so. Auf die Frage, ob sie die Emotionen während der Siegerehrung im Griff gehabt habe, antwortete sie: «Ich sah während der Siegerehrung ein grosse Uhr, sie zeigte 4 Minuten nach 1 Uhr. Ich dachte: ‘Uff, das gibt noch einen langen Tag.'» Aber dann seien ihr die Leute in den Sinn gekommen, «die seit Jahren mein Ego-Projekt unterstützen.» Sie habe kurz ein paar Tränen verdrückt und gehofft, dass keine Kamera zu nahe zoome.
An eine Olympiamedaille habe sie eigentlich erst 2019 geglaubt. «Dann war ich lange davon überzeugt und habe erst wieder gezweifelt, als ich den Kurs hier sah». Der happige Anstieg war nicht unbedingt auf ihre Fähigkeiten zuschnitten. Deshalb ihr Motto: «In den Abfahrten Vollgas geben. Entweder klappt es hier auf diesem Kurs, oder sonst muss ich halt in ein paar Jahren wieder kommen.»