Ein 17-Jähriger aus Mittelitalien stand am Sonntag, 18. August 1996, hoch im Kurs bei den Sportberichterstattern seines Landes. In der Retrospektive ist dies nichts als logisch: Schliesslich lancierte Valentino Rossi damals beim Grand Prix von Tschechien in Brünn mit dem ersten GP-Sieg seine Karriere als Superstar.
Doch die starke Präsenz von Rossi in den Medien hatte vor 24 Jahren ganz profane Gründe. Sie war nämlich vor allem einem Mangel an Alternativen geschuldet. Die Olympischen Spiele von Atlanta waren seit zwei Wochen beendet, die Formel 1 machte an diesem Wochenende gerade Pause, und die Fussball-Klubs der Serie A steckten noch in der Saisonvorbereitung.
Bühne frei also für Rossi - wie später so oft, wenn er am Sonntag auf den Circuits dieser Welt seine Runden drehte und nach und nach in die Herzen der Italiener fuhr. Es war ein Rennen, gefahren zwar nur auf den kleinen 125-ccm-Maschinen, das die ganze Palette des Spektakels im Motorradsport lieferte. Rossi startete von der Pole-Position, verpatzte aber den Beginn des Rennens (ein Manko, das in eine Karriere lang begleiten sollte) und rollte das Feld danach von hinten auf. In der letzten Runde lieferte er sich mit dem Spanier Jorge Martinez ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die Führung wechselte fast im Sekundentakt - bis sich Rossi rund 500 Meter vor dem Ziel ein letztes Mal an Martinez vorbeischob und den Alt-Star in der letzten langgezogenen und leicht abschüssigen Rechtskurve entscheidend distanzierte.
Rossi blickte später einmal auf die entscheidende Phase bei seinem ersten GP-Sieg zurück. «Martinez war ein Spätbremser, deshalb befürchtete ich, dass er mich in der letzten Kurve nochmals einholen könnte. Aber ich habe sauber durchgezogen. Ihn zu schlagen, war eine besondere Genugtuung, denn wir waren uns nicht besonders sympathisch.»
Der erste Sieg! Man könnte jetzt erzählen, was danach kam. Doch es ist alles wohl bekannt: 9 Mal Weltmeister, in vier verschiedenen Klassen (125/250/500 ccm und MotoGP). 115 GP-Siege. Spektakuläre Aufholjagden. Lustige bis provokante Ehrenrunden, verkleidet als Robin Hood oder mit einer blonden Gummipuppe auf dem Sozius. Die längste Karriere als Sieg- und Podestfahrer. Der Ehrendoktortitel in Kommunikation an der Universität von Urbino. Die Probleme mit den Steuerbehörden. Der Peter Pan Italiens. Der bestverdienende Sportler des Landes.
Doch was war eigentlich vorher? Vor seiner Karriere als Superstar? Vor seiner GP-Debütsaison 1996? Da war die Zeit in Rossis Heimatort Tavullia, einem Kaff in den Hügeln der Provinz Marken über der Adria. Der Vater Graziano war selbst Motorrad-GP-Sieger. Er trimmte den kleinen Valentino gegen den Willen der Mutter zum Rennfahrer. Doch Valentino war als junger Teenager mehr am Motorradfahren an sich interessiert und noch weniger an einer Karriere als GP-Sieger. Für ihn war das Motorrad - wie für viele andere junge Italiener auch - Mittel zur Freiheit. Entfliehen aus der Bedeutungslosigkeit der Provinz. Temporausch spüren, Machogehabe zeigen.
Und vor allem dank dem Motorrad die engen Bande der Jugendfreundschaften knüpfen und pflegen. In Tavullia nannten sich Valentino und seine Kumpels «Chihuahuas». Weil sie wie kleine (streunende) Hunde durchs Dorf zogen - meist mit dem Moped. Mit diesen veranstalteten sie Rennen oder lungerten vor den Bars herum.
Valentino war der Anführer der «Chihuahuas». Weil er das grösste Mundwerk hatte und weil er am meisten von Mofas und Motorrädern verstand. Wer ein Problem mit der Bremse, mit dem Anlasser oder mit der Zündkerze hatte, ging zu Valentino. Dieser konnte alles reparieren. Deshalb stammt sein Spitzname auch aus dieser Zeit: «The Doctor». So nennen sie Rossi als Ikone seiner Sportart und als Liebling einer ganzen Nation auch heute noch.