Der zweitletzte Grand Prix der Saison fand zwar im Nahen Osten statt. Zu und her ging es bei der Formel-1-Premiere in Saudi-Arabien aber eher wie im Wilden Westen. Harte, teilweise überharte Duelle zwischen den Titelkandidaten, dazu zwei Rennabbrüche und vier Neutralisationen auf der Strecke, gegenseitige Schuldzuweisungen an den Regiepulten der Equipen von Mercedes und Red Bull, reger Funkverkehr zwischen den Verantwortlichen der beiden Teams mit der Rennleitung, Verhandlungen, die einem Kuhhandel gleichkamen - in Dschidda herrschte am Sonntagabend zeitweilig das Chaos.
Im Zentrum der zahllosen Diskussionen: Max Verstappen. Der Niederländer fiel in längst abgestreift geglaubte Verhaltensmuster zurück. Er zeigte wieder das Gesicht seiner ersten Jahre als Formel-1-Fahrer, das Gesicht des ungestümen, unbelehrbaren und rücksichtslosen Jünglings. Wie so oft damals stand er sich nicht nur selber, sondern sprichwörtlich auch den Anderen wieder im Weg. Oder besser gesagt: d e m Anderen, Lewis Hamilton.
Zwei Überholmanöver Verstappens ausserhalb der erlaubten Zone und das Abdrängen von Hamilton neben die Strecke sorgten für zusätzliche Plusgrade der ohnehin hohen Betriebstemperatur in der Box von Mercedes. Und als der Niederländer nach dem zweiten Versuch und der Aufforderung, den Briten passieren zu lassen, die Temporeduzierung mit abruptem Abbremsen verband, erreichte die Empörung ihren Höhepunkt. Hamilton konnte von Glück reden, dass die unvermeidliche Auffahrkollision keine gravierenden Schäden am Mercedes verursachte. Ein Ausfall hätte die vorzeitige Entscheidung im Titelkampf bedeutet.
Unverständnis bei Verstappen und Team
Statt mit dem Titelgewinn belohnt wurde Verstappen für seine Vergehen bestraft, einmal mit fünf Sekunden, einmal mit zehn Sekunden Zuschlag auf seine Fahrzeit. Für die zweite Sanktion hatte der Niederländer kein Verständnis. Er versuchte, den Sachverhalt aus seiner Sicht darzustellen. «Ich habe erst kurz zuvor erfahren, dass ich den Platz wieder hergeben muss. Also bin ich nach rechts ausgewichen und habe gewartet, dass Lewis an mir vorbei fährt. Er hat aber ebenfalls verlangsamt. Ich selber habe runtergeschaltet - und plötzlich hängt er im Heck meines Autos.»
Für sein Verhalten konnte Verstappen tatsächlich mildernde Umstände geltend machen. Die Zeit zwischen der Aufforderung an den Niederländer und die Information an Hamilton war äusserst knapp gewesen. So wusste der eine offenbar nicht, dass auch der andere nichts wusste. Tönt kompliziert, passt aber zu diesem denkwürdigen Abend mit all seinen Irrungen und Wirrungen. Klar war aber, dass Verstappen der Hauptschuldige für den Zwischenfall blieb. Telemetrie-Daten zeigten, dass er zu stark aufs Bremspedal gedrückt hatte.
Als ungerechte Behandlung betrachten auch Verstappens Vorgesetzte die Urteile. Helmut Marko, der Sportdirektor von Red Bull, ging sogar so weit, Hamilton die Schuld für die Kollision in die Schuhe zu schieben. «Er hat sich offenbar verschätzt.» Teamchef Christian Horner sieht in den Entscheiden von Rennleitung und Sportkommissaren eine einseitige Betrachtungsweise. Bei gleichen Zwischenfällen oder Vergehen werde nur Verstappen bestraft, glaubt der Brite.
Überraschende Ruhe bei Hamilton
Toto Wolff, der Chef des Teams Mercedes, liess seinem Ärger während des Rennens zwischenzeitlich freien Lauf. In den entscheidenden Phasen bewahrten sie in der Weltmeister-Equipe aber trotz allem Ärger in überraschendem Mass die Ruhe, Hamilton eingeschlossen. Der Weltmeister unterstrich dies mit dem Hinweis, bei drei Rad-an-Rad-Duellen mit Verstappen vernünftig vorgegangen zu sein und weitere Zusammenstösse vermieden zu haben. Eine Stichelei in Richtung Rivale musste dann aber doch noch sein. «Ich weiss, dass ein Rennen auf der Strecke ausgetragen wird. Alle anderen Fahrer wissen das auch, nur einer offensichtlich nicht.»
Es wird nicht die letzte Stichelei gewesen sein, die Wortgefechte zwischen den Lagern der beiden Titelkandidaten werden nicht verstummen. Vorwürfe und Anfeindungen werden die Formel 1 auch durch die abschliessende Woche dieser Saison begleiten.
Die Besinnung auf das Wesentliche muss trotzdem spätestens am Sonntag folgen. Trotz blank liegenden Nerven soll die Weltmeisterschaft im Grand Prix von Abu Dhabi auf sportlichem Weg entschieden werden. Der Nahe Osten soll nicht ein zweites Mal zum Wilden Westen werden.