Die Erkenntnis, dass sich die Fahrer in der Formel 1 nicht nur auf, sondern auch neben der Rennstrecke bekämpfen, ist nicht neu. Kleine, gezielte Provokationen gehören wie die heulenden Motoren zum Millionen-Geschäft. Sie verfolgen oft das Ziel, die Gegnerschaft zu destabilisieren oder von den eigenen Problemzonen abzulenken. In einem engen Titelkampf, wie ihn sich Verstappen und Hamilton in dieser WM-Saison liefern, können solche Spielchen durchaus von Bedeutung sein.
In São Paulo drehte sich am Wochenende (fast) alles um den Heckflügel von Lewis Hamilton. Weil der Mercedes des Engländers seit ein Paar Wochen mit einem markant besseren Top-Speed auf den Geraden unterwegs ist, hegte Red Bull den Verdacht, beim Weltmeister-Team werde getrickst. Im Bestreben, Mercedes nach vielen Jahren der Dominanz endlich vom Thron zu stossen, überliess das Team von Verstappen nichts dem Zufall und wurde bei den Regelhütern der FIA vorstellig.
Zufall oder nicht: Prompt wurde am verstellbaren Heckflügel des Mercedes mit der Nummer 44 eine reglementarische Widrigkeit festgestellt. Auch wenn der Regelverstoss mit einer Abweichung von 0,2 Millimeter vom Normalwert marginal war, musste der Engländer bestraft werden. Statt von der Pole-Position nahm Hamilton das Sprintrennen am Samstag von ganz hinten in Angriff.
Hamiltons Kampfansage
Hamiltons Reaktion auf die Rückversetzung fiel beeindruckend aus. Mit der Wut im Bauch zeigte er im Sprintrennen eine starke Aufholjagd und verbesserte sich von Platz 20 auf 5. «Es ist noch nicht vorbei», legte er danach im erbitterten Titelkampf verbal nach, im Wissen, dass er wegen eines unerlaubten Motorwechsels auch im Grand Prix am Sonntag eine Rückversetzung um fünf Startplätze in Kauf nehmen musste.
Auch im Rennen über die regulären 71 Runden legte Hamilton gut los. Während sein aus der Pole-Position gestarteter Teamkollege Valtteri Bottas auf den ersten Metern Verstappen passieren lassen musste, machte der von Startplatz 10 losgefahrene Rekordchampion in der ersten Runde gleich vier Plätze gut. Und nach mehreren, kurzen Safety-Car-Phasen fand er sich bald einmal hinter dem führenden Verstappen wieder.
Einen ersten Angriff konnte der Niederländer zwar noch abwehren. Doch zwölf Runden vor Schluss konnte Verstappen dem Druck von Hamilton nicht mehr standhalten. Der siebenfache Weltmeister zog - mit beträchtlichem Geschwindigkeitsüberschuss auf der Gegengeraden - am WM-Leader vorbei und fuhr danach souverän zum Sieg.
Keine Titelentscheidung in Katar
Damit krönte Hamilton ein verrücktes Wochenende, das für ihn mit den zwei Strafversetzungen immer wieder negative Überraschungen bereit gehalten hatte. Es war dies das dritte Mal nach 2016 und 2018, dass Hamilton auf der Strecke in Interlagos als Erster abgewunken wurde. Nur Michael Schumacher (4 Siege) gewann in São Paulo noch öfter.
Dank Hamiltons sechstem Sieg im 19. Saisonrennen steht auch fest, dass die Titelentscheidung noch nicht am nächsten Wochenende beim Nachtrennen in Katar fallen wird. In der WM-Wertung liegt Hamilton, der weiterhin aus eigener Kraft seinen achten WM-Titel erreichen kann, drei Rennen vor Schluss noch 14 Punkte hinter dem führenden Verstappen zurück.
Noch eine Strafe
Dass es gegen Hamilton nach seinem 101. GP-Sieg in der Formel 1 nochmals eine Untersuchung gab, passte irgendwie ins Bild. Diesmal kam der WM-Zweite aber glimpflich davon. Weil er während der Auslaufrunde seinen Sicherheitsgurt geöffnet hatte, brummten ihm die Stewards eine Busse von 5000 Euro auf.
Auch Verstappen wurde am Samstag mit 50'000 Euro gebüsst, weil er nach dem Qualifying den Heckflügel von Hamilton nicht nur begutachtet, sondern auch berührt hatte. Es wird nicht das letzte Spielchen bis zum Ende der WM-Saison in vier Wochen gewesen sein.
Keine Punkte für Alfa Romeo
Das Team Alfa Romeo blieb in Brasilien ohne Punkte. Kimi Räikkönen klassierte sich als Zwölfter, Teamkollege Antonio Giovinazzi wurde Vierzehnter.
Die Aussichten auf einen sechsten Top-10-Platz in dieser Saison wurde für den Zürcher Rennstall bereits im Sprint-Qualifying am Samstag getrübt, als sich Räikkönen und Giovinazzi berührten, wodurch sich Ersterer drehte und ans Ende des Feldes zurückfiel. Am Sonntag startete der Finne deshalb aus der Boxengasse. Ein Chaos wie vor zwei Jahren, als die Formel 1 vor der Corona-bedingten Pause zum letzten Mal in São Paulo Halt gemacht hatte, blieb diesmal aber aus. Damals sprangen für Alfa Romeo dank den Plätzen 4 und 5 22 Zähler heraus.
Dies hätten die Hinwiler im Kampf um den 8. Rang in der Konstrukteurs-WM auch heuer gut gebrauchen können. So aber liegt Alfa Romeo bei drei ausstehenden Rennen weiterhin zwölf Punkte (11:23) hinter Williams zurück.