Ob Jo Siffert an Schicksal geglaubt hat, ist nicht überliefert. Allfällige Gedanken daran haben ihn auf jeden Fall nicht aus der Fassung gebracht. «Um Angst zu haben, fehlt mir die Zeit», hat er einmal gesagt. Da hatte der furchtlose Draufgänger gesprochen, dem das Risiko ein steter Begleiter war.
Als Autorennfahrer forderte Siffert das Schicksal selbstredend heraus, zumal in einer Zeit, in der die Sicherheit in seinem Sport ein Randthema war und sich der Standard für Schutzvorkehrungen selbst in der Premium-Klasse Formel 1 auf erbärmlichem Niveau befand. Die hohe Todesrate bei Unfällen lieferten den traurigen Beweis dafür.
Auch Siffert war sich der Gefahr durchaus bewusst. Doch entsprechende Gedanken nahm er nie ins Cockpit mit. Sie wären hinderlich gewesen für seine Absichten und hoch gesteckten Ziele. Angst wäre ein schlechter Ratgeber gewesen für einen, der den Temporausch zu seinem Lebensinhalt erklärt hatte.
Wenn aber das Schicksal Regie führt, gibt es kein Entrinnen. Diese übergeordnete Macht hat sich auch bei Siffert ihren Weg gebahnt - über einen längeren Zeitraum, um dann in Sekundenschnelle in Brands Hatch an einem Sonntag im Oktober 1971 mit aller Brutalität zuzuschlagen.
Die Vorahnung des Chefs
Ausgerechnet in Brands Hatch ereignete sich der fatale Unfall. Ausgerechnet auf der Rennstrecke im südöstlich von London gelegenen Ort in der Grafschaft Kent, wo es das Schicksal gut drei Jahre zuvor noch gut gemeint hatte mit Siffert, am Sonntag, 20. Juli 1968, an dem von Anfang bis zum Schluss alles wie am Schnürchen gelaufen war und sogar die angeschlagene Gesundheit seines Teamchefs als positives Signal gewertet wurde.
Rob Walker, ein Spross des gleichnamigen Whisky-Herstellers («Johnny Walker war mein Ur-Ur-Ur-Grossvater»), war über Nacht erkrankt und hatte deshalb seine Vorahnung. Ähnlich schlecht hatte er sich nämlich sieben Jahre zuvor an den beiden Renntagen gefühlt, an denen der Engländer Stirling Moss in den Grands Prix von Monaco und Deutschland für die bis dahin letzten Siege für das Privatteam des Schotten gesorgt hatte.
Sifferts guter Tag begann mit der richtigen Reifenwahl. Im Gegensatz zu einigen Konkurrenten liess er am Lotus trotz möglicher Regenschauer Pneus für trockene Bedingungen aufziehen. Dank einem gelungenen Start passierte Siffert auf den ersten Metern den Neuseeländer Chris Amon im Ferrari und lag an dritter Stelle hinter den Briten Jackie Oliver und Graham Hill in den Werk-Lotus. Hill, der nach vier Runden die Führung übernommen hatte, wurde nach einem Drittel der Distanz von der gebrochenen Antriebswelle gestoppt. Olivers Fahrt endete kurz nach halbem Pensum wegen eines Getriebeschadens. Siffert übernahm die Führung und gab sie in einem lange Zeit umkämpften Duell mit Amon nicht mehr ab. Der erste Schweizer Sieg in einem Grand Prix im Rahmen der Formel-1-Weltmeisterschaft war Tatsache.
Siffert hatte sich für seinen eisernen Willen belohnt und für den Glauben, den Sprung in einem Sport mit horrenden Kosten auch als Sohn einer ärmlichen Familie schaffen zu können. Er war am Ziel seiner Träume angelangt, die ihn schon als Jugendlichen begleitet hatten. Sein Antrieb waren nicht das grosse Geld oder Ruhm und Ehre. Er war vielmehr beseelt und getrieben vom Gedanken, seine Gefühle auf den Rennstrecken ausleben zu können. Sein Aufstieg vom mittel- und namenlosen Kämpfer zum Grand-Prix-Gewinner ist ein Teil des Mythos, der ihn noch immer umgibt.
Siffert war ein Lebemann, der sich aber stets seiner Herkunft bewusst war und trotz neuem Status seine Bescheidenheit und Volksnähe bewahrte. Dieses Ehrliche, Ungeschminkte neben und das Verwegene auf der Rennpiste ergaben eine Mischung, die perfekt in die Zeit der Sechziger- und Siebzigerjahre passte. Um als prägende Figur jener Epoche in die Geschichte der Formel-1-Geschichte einzugehen, brauchte Siffert keine WM-Titel und Siegesserien.
Die Verkettung des Aussergewöhnlichen
Den Schwung des ersten Grand-Prix-Sieges vermochte Siffert nicht auszunutzen. Seine Erfolge blieben auch in der Folge überschaubar. Zum zweiten Mal als Erster in einem Formel-1-Rennen wurde er im Grossen Preis von Österreich drei Jahre später in einem Auto des Teams BRM abgewinkt. Noch einmal hatte sich das Schicksal von seiner guten Seite gezeigt. Doch die dramatische Wende hatte damals schon, als Verkettung aussergewöhnlicher Vorkommnisse, ihren Lauf genommen.
Mitte Juli kam der Mexikaner Pedro Rodriguez bei einem Unfall in einem Sportwagenrennen auf dem Norisring in Nürnberg ums Leben. Rodriguez war für sein Land das, was Siffert für die Schweiz war: eine Ikone. Sein Tod führte zur Absage des Grand Prix von Mexiko, der für den 24. Oktober geplant war. Als Ersatzveranstaltung wurde an jenem Sonntag das Rennen in Brands Hatch ohne WM-Status zu Ehren von Weltmeister Jackie Stewart organisiert.
Siffert sah vorerst von einer Teilnahme ab und wollte stattdessen in einem Porsche ein Langstreckenrennen in Suzuka bestreiten. Aus der Reise nach Japan wurde aber wegen Problemen mit dem Transport des Autos nichts. Der Porsche hätte von Edmonton nach Fernost verfrachtet werden müssen. Die Stadt in Kanada war die letzte Station der CanAm-Meisterschaft gewesen, an der Siffert für den deutschen Sportwagenhersteller auch während seines Engagements in der Formel 1 teilnahm.
Der als Ehrbezeugung für Stewart gedachte Start in Brands Hatch endete als Tragödie. In einem Rennen, das es unter normalen Umständen nicht gegeben hätte, fand Siffert den Tod. Er war mit rund 250 Stundenkilometern von der Strecke abgekommen, das Auto prallte in eine Böschung, überschlug sich und fing Feuer. Die Rettungskräfte waren gegen die Flammen machtlos. Siffert war mit gebrochenen Beinen im Wrack eingeklemmt und im Rauch erstickt. Die Umstände des Unfalls konnten nie geklärt werden. In Betracht gezogen wurden als Ursache ein defekter Reifen, das blockierte Getriebe und eine gebrochene Radaufhängung.
Sifferts Leben am Limit endete viel zu früh. Er wurde nur 35 Jahre alt. Das Schicksal hatte es so gewollt.