Günter Parche war ein unscheinbarer, ungewöhnlich kleiner Mann. Eine graue Maus, die keine Freunde hatte. Dafür hatte er eine Obsession. Diese hiess Steffi Graf und sollte in einer schrecklichen Tat münden.
Der Thüringer Parche ist kein Stalker, bisher hat er die deutsche Tennisikone lediglich via Fernsehen vergöttert. Am 30. April 1993 reist der damals 38-Jährige aber nach Hamburg, in der Tasche ein Küchenmesser. Er hat das Gefühl, er müsse etwas unternehmen, denn sein Idol wurde von einem frechen jugoslawischen Teenager vom Thron gestürzt.
Dieser Teenager heisst Monica Seles und steht im Viertelfinal des Turniers in Hamburg kurz vor dem Sieg, als sich Parche auf der Tribüne Richtung Platz schleicht. Beim nächsten Seitenwechsel sticht er Seles das Messer von hinten in den Rücken. Nicht sehr tief, aber genug, um die Karriere der Nummer 1 aus der Bahn zu werfen. Er habe Seles nur verletzen, keinesfalls töten wollen, sagt der Täter später vor Gericht aus. «Mein Ziel war es, sie für eine gewisse Zeit spielunfähig zu machen, damit Steffi Graf wieder die Nummer 1 der Weltrangliste wird.» Sein Wunsch sollte schon fünf Wochen später Realität werden.
Graf hatte sich ihren Platz in den Geschichtsbüchern im Frühjahr 1993 längst gesichert. Dass sie heute aber mit 22 Grand-Slam-Titeln an dritter Stelle der Allzeit-Bestenliste steht, hat sie auch Parche zu verdanken. Zum Zeitpunkt des Attentats war sie knapp 24 Jahre alt und stand bei elf Major-Triumphen. Sie stand aber auch im Schatten von Monica Seles, die ab dem Australian Open 1991 sieben von neun Grand Slams gewonnen hatte und im Alter von noch nicht mal 20 Jahren bei acht Titeln halt machte. Dazu hatte sie die letzten drei Masters gewonnen. 2013 meinte Martina Navratilova in einem Interview: «Ohne die Messerattacke würden wir von Monica als der Spielerin mit den meisten Grand-Slam-Titeln sprechen, vor Margaret Court und Steffi Graf.»
Nach dem Vorfall in Hamburg gewann Graf die Hälfte ihrer grossen Titel, während Seles' Abwesenheit gleich die folgenden vier Grand Slams. Die physischen Wunden heilten bei der Tochter von ungarisch-stämmigen Eltern, die wenig später die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, schnell. Bereits nach wenigen Tagen konnte Seles das Spital in Hamburg verlassen. Sie litt jedoch unter posttraumatischem Stress, so dass sich ihr Comeback immer wieder verzögerte.
Posttraumatischer Stress und bedingte Haftstrafe
Dass Parche beim Prozess wegen seiner psychischen Probleme nur zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt wurde und das Gericht als freier Mann verlassen durfte, hat wohl auch nicht geholfen. «Wie kann ein Mann, der, unter welchen Bedingungen auch immer, ein Menschenleben gefährdet hat, den Gerichtssaal in Freiheit verlassen», fragte sich auch Steffi Graf. Seles zeigte sich «geschockt und enttäuscht». Das Urteil sende ein falsches Signal aus. «Der Täter hat mich verletzt und darf frei leben. Ich aber erleide weiterhin Schaden, weil ich immer noch nicht spielen kann.» Erst im August 1995, mehr als zwei Jahre nach der Attacke, kehrte Seles auf die Tour zurück. Sie gewann noch das Australian Open 1996 und erreichte drei weitere Grand-Slam-Finals, zur alten Dominanz fand sie aber nicht mehr zurück.
Pionierin einer neuen Generation
Die auf beiden Seiten beidhändig schlagende Seles war mit ihrem Power-Tennis und ihrer Intensität eine Pionierin. Sie war die erste einer neuen Generation, die so hart auf die Bälle einprügelte wie nie zuvor. Ob sie weiterhin in dem Tempo Grand-Slam-Titel gesammelt hätte, bleibt angesichts der grossen physischen Belastung offen. Mit den Medien stand Seles meist auf Kriegsfuss. Auch, weil die sich bevorzugt auf die Lautstärke des Stöhnens von Seles bei jedem Schlag - auch da war sie eine Pionierin - konzentrierten als auf die sportlichen Leistungen. Ihren letzten Wettkampf bestritt Seles beim French Open 2003, an dem sie erstmals in ihrer Karriere in der 1. Runde eines Grand-Slam-Turniers verlor. Seither ist sie weitgehend aus dem Rampenlicht verschwunden.
Das gleiche gilt für Günter Parche, diesen unscheinbaren kleinen Mann, der auch dafür sorgte, dass heute alle Tennisspieler von Sicherheitsleuten abgeschirmt werden. Er hätte mit seiner Geschichte wohl viel Geld verdienen können, doch das war nie sein Ansinnen. 2012 wurde bekannt, dass er nach mehreren Schlaganfällen in einem Seniorenheim in Thüringen lebt, wie «Die Zeit» schrieb.