Kurz nach der Disqualifikation des haushohen Favoriten Novak Djokovic meinte Alexander Zverev bei seiner Pressekonferenz: «Wir werden einen neuen Grand-Slam-Champion haben. Das ist das einzige, was wir sicher wissen.» Ein Schelm, wer hinter der alle Mimik verdeckenden Gesichtsmaske nicht zumindest ein verschmitztes Lächeln ausmachte.
Für Zverev und alle anderen Beobachter war klar, dass zumindest der Weg in den Final für den Weltranglisten-Siebten und Masters-Champion von 2018, dem der Durchbruch bei den grössten Turnieren bis jetzt nicht so wirklich gelingen will, weit offen stand. Mittlerweile ist es nur noch der grundsolide, aber kaum übermächtige Spanier Pablo Carreño Busta (ATP 27), der zwischen Zverev und dessen erster Grand-Slam-Finalqualifikation steht.
Spielerisch war es bislang keine Offenbarung, was der 23-jährige Hamburger im fast leeren Tennisstadion von New York ablieferte. Was er beim Viersatz-Erfolg im Viertelfinal gegen Borna Coric aber zeigte, war eine neu gefundene mentale Konzentration auf das Wesentliche, die den Eurosport-Experten und letzten deutschen US-Open-Halbfinalisten Boris Becker geradezu euphorisch werden liess. «Das war sehr erwachsen. Ich nenne es jetzt mal eine Reifeprüfung.»
Tatsächlich hätte es für Zverev genügend Momente gegeben, um wie so oft in der Vergangenheit auszuflippen und sich selbst komplett aus dem Konzept zu bringen. Da war der miserable Start mit einem 1:6, 2:4-Rückstand nach einer Stunde. Oder die geradezu exzessiven Pausen, die Coric erzwang, in dem er unzählige Male den Platz verliess (alleine während es zweiten Satzes zweimal), um seine durchgeschwitzten Kleider zu wechseln. Oder als die Schiedsrichterin Eva Asderaki bei einem wichtigen Punkt entschied, der Ball sei zweimal aufgesprungen, als Zverev glaubte, einen Stoppball noch rechtzeitig erlaufen zu haben. Der Sohn des gleichnamigen, ehemaligen sowjetischen Tennisprofis tat kurz seinen Unmut kund, blieb aber cool.
Dass er sich spielerisch noch steigern muss, weiss er selber. «Ich habe das Gefühl, dass ich im Training besser spiele als im Match.» Er stellt aber auch nüchtern fest: «Ich bin im Halbfinal, aber ich denke, ich kann immer noch ein paar Sachen verbessern, und das gibt mir Selbstvertrauen. Ich will hier definitiv nicht aufhören.»
Erst der zweite Grand-Slam-Halbfinal
Zumindest scheint er nun seine Blockade bei den grossen Turnieren überwunden zu haben. Obwohl er schon drei Masters-1000-Events gewonnen hat (mit Finalsiegen gegen Novak Djokovic, Roger Federer und Dominic Thiem), schaffte er erst im Januar am Australian Open den Sprung in einen Grand-Slam-Halbfinal. Dort unterlag er einem bärenstarken Thiem, und der Österreicher hinterliess auch am US Open bisher den stärkeren Eindruck. Thiem wie auch der ebenfalls sehr überzeugende Vorjahres-Finalist Daniil Medwedew spielten ihre Viertelfinals erst nach Redaktionsschluss. So oder so könnte Zverev aber erst im Final auf einen der beiden treffen.
Das Aus von Djokovic bedeutet für den Deutschen Chance und zusätzlichen Druck zugleich. Wenn er den Final erreicht, wird er auf dem Weg keinen Top-20-Spieler geschlagen haben. Bis jetzt sieht es danach aus, als könnte er die Chance packen. Erst die nächsten Tage werden aber zeigen, ob das US Open tatsächlich seine Reifeprüfung ist - oder ob die Siege gegen Kontrahenten der zweiten Garde doch nur ein Muster ohne Wert waren.