Um im Schiessen erfolgreich zu sein, braucht es eine ruhige Hand, den Willen, dem Sport alles unterzuordnen, und Nervenstärke. Eine Olympiasiegerin bringt selbstredend all dies mit, doch was Nina Christen am Samstag im Final an Kaltblütigkeit in den letzten fünf Schuss an den Tag legte, war schlichtweg sensationell. Einen Rückstand von 1,8 Punkten verwandelte sie in einen Vorsprung von 2,0 Zählern. Es war die Perfektion, besser geht gar nicht.
Würde man das Kleinkalibergewehr in den Schraubstock einspannen und fünfmal abdrücken, ergäbe das Trefferbild einen Durchschnitt von maximal 10,6 Punkten. Fünfmal 10,9 ist nicht möglich, die Munition und das Gewehr geben dies nicht her. Eine minime Streuung von rund 1 cm auf 50 m bleibt. Und was macht der weibliche Wilhelm Tell von Tokio, notabene stehend, dem schwierigsten der drei Anschläge? 10,8 - 10,4 - 10,7 - 10,4 - 10,2! Der Schraubstock hätte es nicht besser machen können. Zum Vergleich die Russin Julia Sykowa, die als überragende Siegerin der Qualifikation das Nachsehen hatte: 9,0 - 10,3 - 9,7 - 10,2 - 9,5.
Während die Russin mit Gold vor Augen wackelte, legte Christen noch einen Zacken zu. «Nina kann im entscheidenden Moment den Schalter umlegen. Sie schiesst dann noch besser, die Treffer rücken noch mehr ins Zentrum, das ist gewaltig», schwärmt Daniel Burger, Leiter der Bereiche Spitzensport und Nachwuchs im Schweizer Schiesssportverband SSV.
Der Freiburger treibt die Professionalisierung im Spitzensport mit Vehemenz voran. Er hat dafür gekämpft, dass Nina Christen in Rio 2016 eine Chance erhält, die sie mit einem 6. Rang auch nutzte. In Brasilien stiess die junge Frau die Türe auf. Sie sah, die Weltspitze liegt für sie drin, das ist ihr Terrain.
Noch einmal besser
Nina Christen hatte also auch schon in Rio stark geschossen, sehr stark sogar. Aber in den vergangenen fünf Jahren nahm sie nun noch die letzten Feinjustierungen vor, hob ihr Niveau wie im Final von Tokio auf eine noch höhere Anzahl Innerzehner an.
Sie fügte all die Puzzle-Teile zusammen, die es zum Erfolg braucht. Vor Rio 2016 reinigte sie in Wolfenschiessen noch das Schulhaus, um das Sackgeld aufzubessern. Die Spitzensport-RS und der Wechsel ins Profilager eröffneten ihr neue Möglichkeiten. Sie nutzte dies, um ein feines Gespür für sich, ihren Körper und das Umfeld zu entwickeln.
So justierte Nina Christen im Final nicht nur am Gewehr, sondern auch am Coaching-Stuhl, der leicht versetzt hinter der Schützin steht. Sie beorderte statt ihres Trainers den Team-Chef Burger auf den Logenplatz. Die Begründung: «Daniel ist sehr kommunikativ.» Sie spürte, dass zwischendurch ein kleiner Schwatz oder auch nur ein Augenzwinkern helfen würde, den Druck abzubauen. So haben sich die beiden beispielsweise angelächelt, als sie ein Musikstück erkannten, das in der Schiesshalle als Background-Unterhaltung eingespielt wurde.
Der Fisch stinkt nicht
In Tokio stand die 27-Jährige am Anfang der Schweizer Medaillenrazzia. Die Bronzene mit dem Luftgewehr bescherte dem Sportpsychologen Jörg Wetzel viel Arbeit. Denn mit der eher überraschenden Medaille hatte die Nidwaldnerin gleich einen dicken Fisch gefangen.
«Ihre grosse Aufgabe ist nun, das Kapitel Bronze abzuschliessen, den dicken Fisch in die Gefriertruhe zu tun, denn sonst fängt er an zu stinken», sagte Wetzel bereits in der Vorbereitung. Deshalb legte Christen ihre Bronzemedaille am Dienstagabend um 22 Uhr in den Safe und schloss diesen ab.
Aber ganz dicht war die Gefriertruhe eben doch nicht. Christen gab zu, dass sie viel Energie aufbringen musste, um den Fokus wieder auf ihre Spezialdisziplin zu richten. Bronze wirkte nicht nur befreiend, sondern wühlte auf. Ein unerwünschter Effekt in einer kopflastigen Disziplin. Der Fisch blieb nicht ganz frisch. Dies reflektierte sich in einem schwachen Start in der Qualifikation. Den Final der Top 8 erreichte die Schweizerin nur, weil sie zum Schluss aufdrehte und von 40 Schuss stehend deren 32 im Zehner versenkte - Weltklasse.
Nina Christen kam als Weltnummer 1 im Dreistellungsmatch nach Tokio, hatte diese Medaille stets im Visier. Gold war in diesem Sinn keine Überraschung. «Richtig stolz macht mich, dass ich trotz der Bronzemedaille gewonnen habe», ordnet die 27-Jährige ihre Leistung ein.