In einem dramatischen Final behielt Nina Christen nicht nur die Nerven im Griff, sie wuchs sogar über sich hinaus. Die entscheidenden zwei Schüsse setzte sie mit 10,5 und 10,7 Punkten voll ins Zentrum. Sie warf mit diesen Treffern Jeanette Hegg Duestad aus dem Rennen. Die Norwegerin ist nicht irgendwer, sondern die Siegerin einer hochstehenden Qualifikation mit 60 Schuss. «Ich bin stolz auf mich, dass in dieser Situation zwei derart starke Treffer setzte», sagte die Nidwaldnerin. «Der Druck war enorm gross. Ich habe schon vieles erlebt. Aber das war extrem».
Die Situation spielte sich deckungsgleich mit dem Erfolg von Heidi Diethelm Gerber vor fünf Jahren in Rio de Janeiro ab. Die Thurgauerin räumte damals im entscheidenden Moment auch eine Nummer 1 aus dem Weg, die Weltranglistenerste aus China.
Und nun Nina Christen: Bumm, Bumm. Von einem Schuss auf den anderen ist ihr Name national bekannt. Sie gewann mit Bronze die zweite olympische Schiessmedaille für die Schweizer Frauen. Nachdem die Männer zuvor ein paar Jahrzehnte lang im 16-Jahre-Rhythmus Podestplätze holten, schwenken nun die Frauen auf den olympischen Zyklus um. Dies widerspiegelt einerseits die Professionalisierung im Bereich Spitzensport und andererseits die Tatsache, dass die Kader mehrheitlich mit Frauen besetzt sind.
Nichts für schwache Nerven
Der Wettkampf von Nina Christen glich einer Aufholjagd. Erst ganz am Schluss rutschte die beste Schweizer Gewehrschützin als Siebente doch noch in den Final der Top 8. Sie hatte ihr Pensum von 60 Schuss früh beendet und musste darauf hoffen, dass noch die eine oder andere langsamere Konkurrentin schwächeln würde.
Im Final, in dem alles wieder bei null startete, begann die Schweizerin schlecht. Nach fünf Schuss lag sie im 7. Zwischenrang, nach zehn Kugeln auf Platz 6 mit einem Rückstand von 0,8 Punkten auf die Bronzemedaille. Danach setzte der Modus ein, der den Schiesssport so spannend macht. Nach jeweils zwei weiteren Schüssen schied die Letztklassierte aus.
Im Gegensatz zu ihren Konkurrentinnen verfügte Nina Christen über kein Polster. Aber just in diesem Moment lief sie zur Bestform auf. Sie arbeitete sich nach vorne (3. Zwischenrang) und als noch ein Quartett übrig blieb, gelangen ihr die bislang zwei wichtigsten Treffer ihrer Karriere.
Die spätere Olympiasiegerin Qian Yang aus China und die zweitplatzierte Russin Anastasia Galaschina konnte die Schweizerin nicht mehr herausfordern. «Als Bronze feststand, ging der Puls derart hoch, dass die Mündung nur noch schwankte», sagte die Schützin, welche die Schweiz gleich in der ersten von 339 Entscheidungen an den Sommerspielen in den Medaillenspiegel hievte. Mit dem ersten Schuss als Medaillengewinnerin, einer 10,0, besiegelte sie ihr Ausscheiden.
Talent früh erkannt
Nina Christen, die als 12-Jährige mit dem Schiesssport begonnen hatte, deutete ihr Potenzial im Gegensatz zu Heidi Diethelm Gerber bereits in jungen Jahren an. 2014 gewann die Innerschweizerin im Dreistellungsmatch WM-Silber beim Nachwuchs. Mit dem Team wurde sie im selben Jahr Europameisterin im Luftgewehrschiessen. 2016 in Rio verblasste ihr Diplom im Dreistellungsmatch (6. Rang) im Schatten von Heidi Diethelms Triumph. Ihre EM-Titel und Weltcupsiege werden in einer Randsport kaum wahr genommen.
Womöglich setzt die Profisportlerin noch einen drauf. Das Kleinkaliber-Gewehr gilt als Nina Christens Paradedisziplin. Die Zentralschweizerin hält somit Trümpfe in der Hand, die womöglich kommenden Samstag im Dreistellungsmatch erneut stechen.