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In dieser Thurgauer WG wird der Kühlschrank abgeschlossen

Hungrig aufs Leben

In dieser Thurgauer WG wird der Kühlschrank abgeschlossen

21.10.2020, 14:36 Uhr
· Online seit 11.10.2020, 10:21 Uhr
Seit sechs Jahren haben Frauen, die an einer Essstörung leiden, die Möglichkeit auf ein ganz besonderes Therapieangebot: ein WG-Zimmer im thurgauischen Kaltenbach.
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«Hier drin lagern die Frauen ihre privaten Lebensmittel», sagt Gretina Nüesch und öffnet einen Kühlschrank. Zu sehen sind Schliessfächer, beschriftet mit Nummern. Ein normaler WG-Kühlschrank ist das nicht. Die Lebensmittel würden separat aufbewahrt werden, damit niemand während eines Essanfalls zum Essen einer anderen Person greift, erklärt Nüesch. Sie leitet die Wohngemeinschaft für Frauen mit Essstörung «Power2be Bethanien» im thurgauischen Kaltenbach – ein Angebot, durch das die Betroffenen in einer familiären Atomsphäre einen gesunden Umgang mit Essen erlernen.

Zehn Frauen wohnen hier. Sie haben unterschiedliche Diagnosen, unterschiedliche Geschichten, aber dasselbe Ziel: Heilung. Die meisten Bewohnerinnen sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Als diese geboren wurden, hatte Hope (Name geändert) ihre erste Essstörung, eine Magersucht. Mit 51 Jahren ist sie die älteste Person in der WG. Dass sie nur mit Frauen zusammenlebt, kommt ihr entgegen:

Die Entscheidung, dass nur Frauen in die WG aufgenommen werden, sei bewusst getroffen worden, um Bewohnerinnen mit traumatischer Vergangenheit ein Gefühl von Schutz zu vermitteln, sagt Gretina Nüesch. Am Wochenende ist jeweils Besuchszeit. Dann sind auch Männer willkommen. Der Rest der Woche ist klar strukturiert. Beim Frühstück und Abendessen isst die Gruppe, wenn möglich, gemeinsam, das Mittagessen muss jeder selbständig organisieren. Die Bewohnerinnen erhalten nach dem Frühstück oder nach dem Abendprogramm jeweils die Möglichkeit für 10- bis 15-minütige Gespräche, sogenannte «Kurzkontakte», mit den Betreuungspersonen.

Wochenplan

Eigenverantwortung statt Zwang

Das Abendessen ist in der Wohngemeinschaft besonders wichtig. Die Betreuerinnen planen ein gesundes Menü, eine Betreuerin und zwei Bewohnerinnen kochen – gegessen wird zusammen am grossen Tisch. Wichtig ist, dass jedes Gericht ausgewogen ist, das heisst aus Kohlenhydraten, Proteinen und Gemüse besteht. «Es gibt auch ab und zu Süssigkeiten. Wir zwingen aber niemanden, diese zu essen», sagt Gretina Nüesch. Generell herrscht im Power2be Bethanien kaum Druck. Jede Bewohnerin besitze den Schlüssel zum eigenen Schliessfach im Kühlschrank und hat somit Tag und Nacht Zugriff auf die eigenen Lebensmittel, erklärt Nüesch:

Besprochen werden die Essanfälle oder auch andere Probleme bei der Alltagsbewältigung zum Beispiel während der Kurzkontakte oder bei Gesprächen mit den Bezugspersonen. Gemeinsam werden dann Strategien entwickelt, wie künftige Essanfälle verhindert werden können. Die Bewohnerinnen bleiben unterschiedlich lange in der WG. Bisher gibt es noch keine Grenzen, weder eine Mindest- noch eine Höchstdauer. Hope ist dankbar, dass sie hier genug Zeit bekommt, um ihr Leben zu verändern: «Andere Therapien dauern nur 10 bis 12 Wochen. In einer so kurzen Zeit kann man einfach nicht gesund werden.» Das Power2be Bethanien funktioniert nicht wie eine klassische Klinik für Essstörungen. Die Bewohnerinnen erhalten viel Unterstützung bei ihrer Tagesplanung. Einmal pro Woche stehen sie auf die einzige Waage im ganzen Haus. Auch grosse Spiegel gibt es kaum, damit die Frauen sich auf ihre Heilung konzentrieren können und nicht ständig von ihrem Spiegelbild abgelenkt werden.

Bewohnerinnen profitieren

In der Wohngemeinschaft leben Frauen mit unterschiedlichen Essstörungen. Das Zusammenleben funktioniere aber trotzdem gut, sagt Regula Schönwetter, die schon seit fünf Jahren als Betreuerin im Power2be Bethanien arbeitet: «Frauen, die lieber essen, können den Frauen, die wenig essen, ein Vorbild sein und umgekehrt. Die Bewohnerinnen profitieren voneinander.» Langzeitresultate können noch nicht erstellt werden, da die Wohngemeinschaft erst seit 2014 existiert. Erste Umfragen hätten aber gezeigt, dass die Verläufe grösstenteils positiv seien, erzählt Regula Schönwetter: «Das heisst nicht, dass die ehemaligen Bewohnerinnen mit gar keinen Symptomen mehr zu kämpfen haben. Gerade für Personen, die schon lange an einer Essstörung leiden, kann dies bedeuten, dass sie gelernt haben, besser mit der Krankheit umzugehen.» Auch Rückfälle würden dazugehören.

Die Plätze in der Wohngemeinschaft sind beliebt. «Das liegt daran, dass in der ganzen Schweiz kein vergleichbares Angebot existiert», sagt Gretina Nüesch. Hope ist sich bewusst, dass diese Form von Therapie etwas Besonderes ist und würde sie auf jeden Fall weiterempfehlen: «Ich wünsche jeder Frau mit einer Essstörung, dass sie diese Chance bekommt und gesund werden darf.»

veröffentlicht: 11. Oktober 2020 10:21
aktualisiert: 21. Oktober 2020 14:36
Quelle: Svenja Rimle

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