Eine 19-jährige Frau, ein Pferd und ein Hund pilgern von Bochum ins nordwestspanische Santiago de Compostela. Was eigentlich ein unvergessliches Abenteuer hätte werden sollen, ist der Beginn eines mühseligen Kampfes – Sanyana Tala gegen sich selbst. Die Verantwortung für ihre Tiere und das starke Heimweh überfordern Sanyana. Sie unterdrückt ihre negativen Gefühle, indem sie weit mehr Nahrung zu sich nimmt als nötig. «Essen war schon immer etwas, was mich getröstet und mir ein warmes Gefühl im Bauch gegeben hat», reflektiert sie heute, acht Jahre später. Mit einigen Kilos mehr kehrte sie aus Spanien zurück. Die Reaktion ihres damaligen Freundes hat sich in ihren Kopf eingebrannt: «Ich liebe dich auch so, aber vorher war schon schöner.» Damit war der Startschuss für eine Diät-Odyssee gefallen.
Viel Fett und Zucker
An den Verlauf ihrer Essstörung erinnert sich Sanyana Tala genau. Um ihrem Freund und sich selbst wieder zu gefallen, erhöhte sie ihr Sportpensum und verringerte ihre Nahrungszufuhr. Nach rund zwei Monaten begannen die unkontrollierten Essanfälle – ein klassisches Symptom für eine Bulimie oder eine Binge-Eating-Störung.
Bei essstörungsbedingten Essanfällen greifen die Betroffenen oft zu besonders zucker- und fetthaltigen Lebensmitteln. «Sie versuchen in ihrem Alltag kalorienreiche Nahrungsmittel zu vermeiden, da sie Angst vor einer Gewichtszunahme haben. Das verstärkt die Sehnsucht danach umso mehr und die nächste Attacke ist vorprogrammiert», so Bettina Isenschmid, Ernährungsmedizinerin im Spital Zofingen. Bei einem Essanfall konnte Sanyana ohne Probleme 10'000 Kalorien zu sich nehmen. Der Tagesbedarf für eine junge Erwachsene liegt, laut der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE, bei ungefähr 2500 Kalorien.
Beispiel eines Essanfalls von Sanyana Tala (in weniger als einer Stunde)
Solche Essanfälle hatte Sanyana mehrmals in der Woche, bis zu zweimal täglich. Sie fühlte sich währenddessen wie im Wahn. «Oft bin ich nach dem Einkaufen sogar nach Hause gerannt, weil ich so dringend essen musste», erzählt die heute 27-Jährige. Während des Essens konnte sie abschalten, sie hatte einen Moment Pause vom Leben, Pause von sich selbst. Sie musste sich füllen, um sich nicht leer zu fühlen.
Das Leiden war nicht nur emotional, sondern auch physisch. Sie ass, bis sie sich vor Schmerzen kaum noch bewegen und nur auf der Seite liegen konnte. Betrachtete sie sich im Spiegel, fühlte sie Ekel, Scham und Schuld. «Du fette, ekelhafte Sau!», dachte sie oft. Gegen aussen liess sie sich nicht anmerken, dass es ihr schlecht ging: «Meine Freunde sahen mich immer als energiegeladener Sonnenschein.»
Reden und Ursachen suchen
Vier Jahre lang besuchte Sanyana Tala wöchentlich eine Therapie. Dabei machte sie einen wichtigen Schritt im Heilprozess: Sie lernte, über ihr Problem zu reden. Auch Bettina Isenschmid hält das für wichtig. «In der Psychotherapie ist die Sprache das wichtigste Ausdrucksmittel. Über etwas Beschämendes reden zu können, entlastet», sagt sie. Reagierten die Menschen nicht so, wie Sanyana sich das wünschte, machte sie das traurig.
Irgendwann merkte sie, dass es nichts mit ihr zu tun hat, wenn das Gegenüber durch die Tiefe der Informationen überfordert ist. Heute ist es ihr egal, wie das Umfeld reagiert. Sich den Ursachen für ihre Essstörung bewusst zu werden, hat Sanyana ebenfalls geholfen. Sie fühlte sich früher weder wertvoll noch geliebt. «Ich glaubte damals, dass mein Aussehen etwas an meinem Wert verändern kann. Das ist ein absurder Gedanke, der in diesem kranken Zustand so logisch klingt», sagt sie.
Auf ihrem Weg zur Heilung blieb Sanyana offen, auch für esoterische Methoden. So entdeckte sie zum Beispiel Schamanismus und Meditation für sich. Auch in anerkannten Therapie-Konzepten spielt Meditation eine Rolle: «Sie kann helfen, sich auf die Gegenwart einzulassen und das krankheitserhaltende Verhalten zu ändern», sagt Bettina Isenschmid.
Essstörung als Geschenk
Nach ihrer Rückkehr aus Spanien sah Sanyana Tala sich als dick und hässlich. Heute wiegt sie rund 14 Kilogramm mehr als damals – und fühlt sich schön. «Ich empfinde meine damalige Essstörung als ein Geschenk. Sie hat mich gelehrt, hinzuschauen und mich zu spüren», sagt sie. Sie glaubt, dass sie so lange eine Essstörung gehabt hat, habe einen Grund. Wäre sie früher symptomfrei geworden, meint sie, wären die tieferen Ursprungsprobleme in ihr womöglich nie aufgelöst worden.
Heute ernährt sich Sanyana ausgewogen, gönnt sich aber auch regelmässig Süssigkeiten. Alles ist erlaubt, ganz ohne Zwang. In den letzten Jahren hat sie gelernt, sich selbst zu lieben. Und wenn das nicht möglich ist, sagt sie zu sich: «Es ist okay, dass du dich gerade nicht liebst. Ich bin trotzdem da und hoffe, dass es dir irgendwann gelingt.»