Tausende Migrantinnen und Migranten warten im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen in eisiger Kälte. Sie hoffen, irgendwie nach Europa zu kommen und dort Asyl zu beantragen. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen?
Was sind das für Menschen, die nach Europa kommen wollen?
Schon hier wird es kompliziert, denn so ganz genau weiss man das nicht. Belarus und Polen lassen keine Journalistinnen und Journalisten und auch keine NGOs in das Gebiet. Es gibt jedoch Berichte, dass diese Menschen vor allem aus Irak, Syrien und Afghanistan kommen.
Wie sind sie überhaupt an diese Grenze gekommen?
Das hingegen weiss man ziemlich genau. Der belarusische Diktator Alexander Lukaschenko schaffte die Voraussetzungen. In Dubai, in der Türkei und noch in weiteren Orten werden die Flugtickets nach Minsk direkt mit einem Touristenvisum verkauft. Einmal in Belarus angekommen, werden die Menschen mit Bussen an die Grenze gefahren und dort von den belarusischen Sicherheitskräften an der Rückreise gehindert.
Moment mal. Mit Flugzeugen? Kommen die Flüchtlinge sonst nicht über den Land- oder Seeweg?
Für die grosse Mehrheit gilt das noch immer. Die paar Tausend im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus können sich immerhin ein Flugticket leisten, in der Regel haben sie dafür ihr gesamtes Hab und Gut verkauft. Beobachterinnen und Beobachter gehen davon aus, dass es sich hier nicht um die «typischen» Migrantinnen und Migranten handelt. Es ist deshalb auch unklar, ob sie in Europa überhaupt Asyl bekommen könnten.
Quelle: CH Media Video Unit / Melissa Schumacher
Und trotz dieser unsicheren Aussicht auf Asyl sind sie da?
Ja. Denn auch sie hoffen, in Europa aufgenommen zu werden.
Aber die werden doch sicher gleich wieder zurück geschickt.
So einfach ist das nicht. Asylverfahren in Europa können Jahre dauern. Belarus wird die Leute bei einem negativen Bescheid nicht wieder aufnehmen. Auch alle anderen Länder, die diese Menschen durchquert haben oder aus denen sie stammen, werden sie nicht zurücknehmen.
Aber der belarusische Diktator Lukaschenko hat sie ja überhaupt erst geholt, wieso sollte er das machen, wenn er sie nicht will?
Dazu gibt es nur Vermutungen. Der Westen beschuldigt Lukaschenko, absichtlich diese Krise herbeigeführt zu haben, um Druck auf Europa zu machen. Er wolle so Polen und Litauen bestrafen, weil diese Länder Dissidenten und andere Opfer der belarusischen Repression aufgenommen haben. Ausserdem solle die EU damit aufhören, Belarus aufzufordern, die politischen Gefangenen freizulassen und Neuwahlen durchzuführen – und die damit verbundenen Sanktionen aufheben. Als positiver Nebeneffekt steht Lukaschenko innerhalb des Landes als Helfer der Flüchtlinge da und die EU als der böse Gegenspieler, der die Menschen einfach erfrieren lässt.
Lukaschenko selbst dementiert das natürlich. Doch seine früheren Aussagen lassen dies wenig glaubwürdig erscheinen. Er sagte im Sommer, als die ersten Migrantinnen und Migranten eingeflogen wurden, dass Belarus «niemanden auf dem Weg in das aufgeklärte, warme, komfortable Europa aufhalten will».
Und wieso wehrt sich Polen gegen die Flüchtlinge? Die kann man ja nicht einfach erfrieren lassen!
Polen spricht von Erpressung. Und da will das Land natürlich nicht nachgeben. Ausserdem ist Polen selbst dafür bekannt, einen sehr repressiven Umgang mit Migration zu haben. Die polnische Regierung unter Präsident Andrzej Duda und der rechtspopulistischen Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) profitiert ebenfalls von der Krise. In Meinungsumfragen liegen sie in einem Tief, jetzt kann sie sich als Verteidigerin Polens profilieren. Die Regierung spricht hier auch bewusst nicht von einer humanitären Krise, sondern von einem «Angriff auf das Land».
Müsste da nicht die EU intervenieren?
Die EU hat Polen Hilfe angeboten. Viel mehr kann sie nicht machen, Polen ist ein souveränes Land. Sollte Polen wirklich Hilfe annehmen, würde die Regierung innenpolitisch das Gesicht verlieren. Ausserdem will sich natürlich auch die EU nicht von Belarus erpressen lassen. Und: Das Verhältnis zwischen Polen und der EU war auch schon besser. Derzeit läuft ein Rechtsstaatsverfahren der EU gegen Polen.
Trotzdem: Die Menschen brauchen Hilfe!
Sind die Migrantinnen und Migranten auf belarusischer Seite, sind sie nicht das Problem Polens oder der EU – so zumindest deren Ansicht. Sobald Menschen auf polnischem Gebiet sind – oder nur schon in Hörweite der Grenzpolizisten – können sie einen Asylantrag stellen. Deshalb werden auch die Grenzzäune aufgestellt und keine unabhängigen Beobachterinnen und Beobachter ins Gebiet gelassen, die einen solchen Vorgang sehen könnten. Sobald ein Asylantrag gestellt wird, muss man ihn prüfen und die Flüchtlinge dürfen nicht zurückgeschickt werden.
Allerdings läuft hier doch ziemlich viel falsch ab: Polen führt sogenannte «Pushbacks» aus. Wer es auf ihre Seite schafft, wird von den Grenzpolizisten wieder auf die andere Seite gebracht. «Pushbacks» werden in der Regel als illegal angesehen, falls es vorher keine Prüfung des möglichen Asylrechts gegeben hat. Polen selbst hat aber in diesem Jahr ein eigenes Gesetz verabschiedet, dass solche «Pushbacks» erlaubt.
Gibt es nicht noch die Agentur Frontex, die an den EU-Grenzen aufpassen sollte?
Frontex ist nicht an dieser Grenze. Auch, wenn die EU und viele europäische Länder genau das fordern. Durch Frontex sollen so rechtsstaatliche Verfahren sichergestellt werden. Polen ist jedoch dagegen. Übrigens würde es auch mit Frontex nicht unbedingt besser werden. Denn auch diese Firma wurde schon mehrfach der illegalen «Pushbacks» und anderen Menschenrechtsverletzungen überführt.
Wie geht es mit den Menschen im Grenzgebiet weiter?
Das weiss niemand so genau. Das grosse Problem ist, dass keine Hilfsorganisationen Zugang zu ihnen bekommen. Bleibt das so, werden wohl weitere Menschen vor der Grenze Europas erfrieren – aus politischen Gründen.
So: Was ist die Lösung?
Ach, wenn wir das wüssten! Lukaschenko wird nicht aufhören, Menschen an die Grenze zu bringen. Polen wird diese Menschen nicht ins Land lassen. Die EU hofft, die Fluggesellschaften, welche die Transporte machen, irgendwie bestrafen zu können.
EU-Politiker schlagen vor, die Menschen im Grenzgebiet in die Ukraine zu bringen. Das wäre ein «Nicht-EU-Staat» und damit einigermassen neutral. Dort sollen dann «ordentliche Asylverfahren» durchgeführt werden. Wohin die Menschen nach den Verfahren gebracht werden würden, wird jedoch nicht gesagt. Auch nicht, ob die Ukraine da einverstanden wäre, was eher unwahrscheinlich ist. Die EU weiss auch: Nimmt sie die Menschen auf, wird das ein Signal für weitere Migrantinnen und Migranten sein und Lukaschenko würde verstärkt aus der Krise kommen.
Die Situation ist festgefahren. Und bis es eine Lösung gibt, werden weiterhin täglich weitere Menschen zur Grenze gebracht und müssen dort erfrieren.