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Explosionen, Angst und Hunger – Leiden im ukrainischen Kriegsgebiet

Ukraine

Explosionen, Angst und Hunger – Leiden im ukrainischen Kriegsgebiet

· Online seit 28.02.2022, 17:11 Uhr
Wenn Tatjana Kolesnik aus der ostukrainischen Stadt Charkiw den Kühlschrank öffnet, findet sie dort nicht mehr viel. Ein bisschen Butter, zwei Eier, einen halben Liter Buttermilch. Ein, zwei Kilo Getreide habe sie auch noch und etwas Fleisch im Gefrierfach.
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«Wir Erwachsenen essen mittlerweile nur noch einmal am Tag», schreibt die Künstlerin der Nachrichtenagentur dpa über Facebook. «Unsere Kinder versuchen wir, noch (vor Rationierung) zu verschonen, aber sie jammern auch schon.»

Am Tag fünf nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine spitzt sich die Versorgungslage zu. Aus mehreren Städten berichten Menschen am Montag, dass es immer schwieriger werde, an Lebensmittel zu kommen. Bilder leerer Supermarktregale kursieren in sozialen Medien. Laut einer Liste der Kiewer Stadtverwaltung von Montag sind auf dem ganzen Gebiet der 2,8-Millionen-Einwohner-Metropole lediglich noch 37 Apotheken geöffnet.

Raketen auf Wohngebiete in Charkiw

Aus mehreren Städten werden erneut schwere Gefechte und Explosionen gemeldet – aus Charkiw Beschuss durch Mehrfachraketen auf Wohngebiete. Das nährt die Befürchtung, dass die russische Seite weiter eskalieren könnte. Ein wenig Hoffnung macht die Nachricht, dass erste Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland aufgenommen worden seien.

Die Stadtverwaltung Kiews erklärt am Montagmorgen, die Menschen, die nun nach rund eineinhalb Tagen Ausgangssperre wieder auf die Strassen dürfen, sollten sich nicht wundern: Panzersperren, neue Befestigungen und andere Verteidigungsstrukturen seien in der Stadt installiert worden. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt werden allerdings dazu aufgerufen, nach Möglichkeit weiter zu Hause zu bleiben.

Sabotagegruppen in Kiew unterwegs

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko erklärt in einer weiteren Videoansprache, die Sicherheitskräfte hätten mehrere Sabotagegruppen ausgeschaltet und gefangen genommen. Er warnt mit lauter Stimme auch mögliche Plünderer - diese würden nach dem Kriegsrecht ohne Vorwarnung «neutralisiert». Der ukrainische Generalstab geht davon aus, dass Kiew weiter das Hauptziel des russischen Angriffs ist.

Zwischen den Meldungen über brennende Infrastruktur und andauernde Angriffe im Land versuchen sich die Ukrainer in sozialen Medien trotz der bedrohlichen Lage gegenseitig Mut zuzusprechen und ermunternde Nachrichten zu verbreiten. Der bekannte Sänger der Gruppe Boombox, der selbst in einen Freiwilligenverband zur Verteidigung in Kiew eingetreten war, singt vor der berühmten Sophienkathedrale in Militärhose und mit umgehängter Waffe a cappella ein patriotisches Lied.

Kleine Aufmunterungen und immer wieder Luftschutzalarm

Zu einem Helden steigt unterdessen der Bürgermeister der Kleinstadt Dniprorudne auf, der mit mehreren unbewaffneten Bewohnern seiner Stadt russische Panzer dazu bringt, kehrt zu machen. Und für viele überraschend tritt Olexander Ussyk, der ukrainische Boxweltmeister im Schwergewicht, ebenso dem Freiwilligenverband zur Gebietsverteidigung bei. Er stammt von der von Moskau annektierten Krim und hatte es vor dem Krieg immer vermieden, Russland zu kritisieren.

Solche Mutmacher bringen aber nur kurze Ablenkung. Tatjana Kolesnik aus Charkiw erzählt, sie höre den ganzen Tag über Gefechte und Einschläge in der Stadt. Immer wieder werde auch der Luftschutzalarm ausgelöst. Dann liefen alle in den Gang, denn ihre alternde Mutter sei zu schwach, es so oft in den Keller und wieder hinauf zu schaffen. Der Sohn huste bereits.

Zivile Personen in Gefahr, Hunger wächst

Die Ehemänner von Kolesniks Freundinnen seien draussen und würden Abwehrgräben ausheben. Der Hunger sei noch nicht gross genug, den Vater bei dem sich immer weiter verstärkenden Gefechtsgeräuschen hinauszuschicken, um etwas Essbares zu besorgen. Die Gefahr ist real: Mindestens elf Menschen wurden am Montag in der Stadt durch den Beschuss mit Mehrfachraketenwerfern getötet.

Die Gespräche an der ukrainisch-belarussischen Grenze, sagt Kolesnik, verfolge sie sehr genau. Gerade eben habe sie erfahren, dass ihr Nachbarhaus getroffen worden sei. «Umso mehr warte ich auf Resultate dieser Gespräche.»

veröffentlicht: 28. Februar 2022 17:11
aktualisiert: 28. Februar 2022 17:11
Quelle: sda

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