Jakob Eichhorn ist 30 Jahre alt und führte über lange Zeit ein unbefriedigendes Leben: «Ich kam mit 17 Jahren aus der Schule und habe anschliessend ungefähr acht Jahre überhaupt nicht gewusst, was ich aus mir machen will. Meine tägliche Realität hiess Laptop, Youtube, Facebook, Pornosucht. Ich lebte sozial völlig isoliert.»
Heute ist der gebürtige Ulmer zertifizierter Personality- und Männer-Coach, führt ein spannendes Leben mit tiefen Freundschaften – er ist ein gänzlich anderer Mensch, wie er selbst sagt. Wie hat er innerhalb weniger Jahre eine 180-Grad-Wende in seinem Leben hinbekommen? Sein persönliches Erfolgsgeheimnis heisst Radical Honesty, radikale Ehrlichkeit.
Ein Gegenentwurf zum täglichen Lügen
«Wie sehe ich in diesem Kleid aus?», «Hat es geschmeckt?» oder ganz einfach «Geht es gut?»: Jeder von uns kennt Situationen, in denen wir es mit der Wahrheit manchmal nicht so genau nehmen. Aus Höflichkeit, weil man jemanden nicht verletzen möchte, aus Angst oder Scham, weil man mit der Wahrheit sein Innerstes entblössen würde. Oder aus Egoismus, um etwas zu erreichen, das einem sonst verwehrt bliebe. Gemäss diversen Studien erzählen die meisten Menschen täglich mehrmals Unwahrheiten.
Radical Honesty ist eine Lebensphilosophie, die das pure Gegenteil des täglichen Lügens propagiert. Menschen, die sich diesem Prinzip verschrieben haben, sagen die Wahrheit. Und zwar schonungslos.
Die Theorie des radikalen Ehrlichseins ist nicht neu. Sie basiert auf einem Buch des amerikanischen Psychotherapeuten und Autors Brad Blanton und wurde bereits 1994 veröffentlicht. Seine Theorie basiert auf der Annahme, dass lügen und sich zu verstellen, die Grundquelle von Ängsten, Unsicherheiten und Depressionen sind. Mittlerweile gibt es auch in Europa Menschen, die nach Blantons Idee leben.
Was erhoffen sich diese Menschen davon? Riskiert man mit radikalem Ehrlichsein nicht, dass man Mitmenschen zutiefst verletzt? Dass man Menschen um sich herum wütend macht und deshalb zum Einzelgänger wird?
Warum Ehrlichkeit ein Filter ist
Auf die letzte Frage hat Jakob Eichhorn eine klare Antwort: «Seit ich nach Radical Honesty lebe, habe ich viel mehr Menschen in meinem Leben, die ich wirklich gerne mag und meine Freundschaften wurden tiefer und intensiver.»
Die Begründung dafür ist nachvollziehbar: Ehrlichkeit erfüllt eine Filterfunktion. «Wenn ich ständig performen und mich verstellen muss, um von Leuten gemocht zu werden, löst das Unzufriedenheit aus», sagt Eichhorn. «Wenn ich jedoch ehrlich bin, erkenne ich, wer mein wahres Ich wirklich mag und wer nur mit der gefaketen Version von mir klarkommt.»
Eichhorn sagt, dass ihm diesbezüglich eine Erfahrung aus seinem allerersten Radical-Honesty-Workshop in Finnland stark geholfen hat. Als er nach der Trennung von seiner ersten Freundin an einem mentalen Tiefpunkt angelangt war, entschloss er sich, Radical Honesty auszuprobieren und reiste für einen fünftägigen Kurs in die finnische Pampa.
Dort realisierte er, dass es Menschen gibt, die ihn so nehmen, wie er wirklich ist: «Mit meiner kleinlichen, meiner ärgerlichen, meiner eifersüchtigen Seite – ich wurde genau dafür gemocht, was ich wirklich bin», so Eichhorn.
Unerforschtes Gebiet
Für Eichhorn hat sich der Mut, ein neues Lebenskonzept auszuprobieren, vollkommen gelohnt. Aber wenn Radical Honesty so vielversprechend ist und so viel glücklicher macht, wieso überwinden sich nicht mehr Menschen, danach zu leben?
Es gibt verschiedene, denkbare Gründe. Einer ist der geringe Bekanntheitsgrad. Obwohl es mittlerweile auch in Europa Leute gibt, die Radical Honesty praktizieren, ist das Konzept keineswegs einer Mehrheit der Gesellschaft ein Begriff. Und selbst an den psychologischen Instituten von Hochschulen befasst sich niemand eingehend damit. Auf Anfrage von FM1Today bei verschiedenen Universitäten in der Schweiz und im Ausland liess sich keine Fachperson finden, die Auskunft zu Radical Honesty hätte geben können. In aller Regel mit dem Verweis, dass es «niemanden gibt, der Expertise auf diesem Gebiet hat».
Radical Honesty wird falsch verstanden
Ein weiterer Grund, dass sich Radical Honesty bisher nicht gesellschaftlich durchsetzen konnte, ist möglicherweise, dass das Konzept im ersten Moment falsch verstanden wird. Wer von Menschen hört, die radikal ehrlich sind, der denkt an Leute, die der Migros-Kassiererin grundlos sagen, dass sie eine grosse Nase habe und dem nach Schweiss müffelnden Sitznachbarn im Bus unverblümt ein Deo empfehlen. Oder dem ständig nörgelnden Chef ins Gesicht sagen, dass er sich wie ein Idiot verhält.
Doch bei Radical Honesty geht es nicht um andere. Es geht darum, auszudrücken, was einen selbst beschäftigt, was einem auf dem Magen liegen würde, sollte man es nicht herauslassen. «Radical Honesty hat viel mit Körperwahrnehmung zu tun. Es gibt dabei zum Beispiel Einflüsse aus dem Buddhismus, die sich mit dem Erkennen und Einordnen eigener Gefühle beschäftigen», sagt Jakob Eichhorn.
Zwischen Überwindung und Routine
Wenn man merkt, dass einen in einer bestimmten Situation etwas emotional bewegt, soll man das ansprechen. Grundlos das Aussehen anderer Menschen zu kommentieren, wird bei den meisten nicht dazugehören. Findet man aber beispielsweise eine Person attraktiv und diese löst ein Gefühl wie Anziehung in einem aus, dann sollte man das mitteilen.
Genau diese Situation ringt Eichhorn heute noch Überwindung ab. Eine Frau anzusprechen, die ihm gefällt. Andere Situationen hingegen pendelten sich bei ihm zur Routine ein. Zum Beispiel, wenn er mit Freunden spricht. «Wenn jemand anders hört, wie ich ein Gespräch mit einem guten Freund führe, dann denkt er wahrscheinlich ‹Was geht denn hier ab?›», sagt Eichhorn und lacht.
Zertifizierter Ehrlichkeits-Trainer
Mittlerweile gibt Eichhorn sein Wissen und seine Erfahrungen an andere Personen weiter. Er hat eine 18-monatige Ausbildung zum Radical-Honesty-Trainer bei Tuulia Syvänen, einer Finnin, die das Konzept schon länger praktiziert, absolviert. Im Anschluss an seine Ausbildung wurde er von Radical-Honesty-Begründer Brad Blanton offiziell als Coach zertifiziert.
Eine wichtige Botschaft, die er seinen Kursteilnehmenden mitgibt: Radical Honesty soll nicht als alles überlagernde Regel das Leben fortan bestimmen. «Radical Honesty soll ein Werkzeug sein, um mit weniger Einschränkungen und selbstbewusster zu leben. Wenn ich mir selbst auferlege, ab sofort in jeder Situation die Wahrheit aussprechen zu müssen, dann schränke ich mich im Grunde nur erneut ein», erklärt er. Er betont deswegen noch einmal, dass es darum geht, dann ehrlich zu sein, wenn die eigenen Emotionen angesprochen werden.
Ehrlich zu sein, bedeutet also nicht, grundlos gemein zu sein. Die Deo-Empfehlung an den Bus-Nachbarn kann man vermutlich genauso für sich behalten wie den Kommentar über die Nase der Migros-Kassiererin. Wenn einen der ständig nörgelnde Chef aber wirklich nervt – dann sollte man das ansprechen. Aber dabei vielleicht die Bezeichnung «Idiot» vermeiden.