Welt

Rechtsrutsch in Europa – droht ein Rückfall in die Zeit zwischen den Weltkriegen?

Analyse

Rechtsrutsch in Europa – droht ein Rückfall in die Zeit zwischen den Weltkriegen?

· Online seit 03.10.2024, 06:30 Uhr
Die letzten Wahlen in Österreich, in Teilen Deutschlands und auch in Frankreich haben gezeigt: Die Rechten in Europa sind im Aufwind. Droht uns ein politischer Rückfall wie zu Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkriegs? Eine Analyse.
Daniel Huber / watson
Anzeige

Es war ein Wahlerfolg mit Ansage: Die rechtspopulistische und in Teilen rechtsradikale Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ist bei den Parlamentswahlen in Österreich mit knapp 30 Prozent der Stimmen erstmals stärkste Partei geworden, nachdem sie bei den Umfragen geführt und auch schon bei den Europawahlen im Juni gewonnen hatte. Umgehend gratulierte das Spitzenpersonal verschiedener rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien in Europa der FPÖ, als eine der ersten Marine Le Pen, die starke Frau des Rassemblement National (RN) in Frankreich.

Während die Rechtspopulisten einen weiteren Erfolg feiern, macht sich bei den Parteien von links bis Mitte rechts angesichts des Rechtsrutschs in Europa Ratlosigkeit breit. Und dazu die Befürchtung, dem Kontinent könnte ein ähnliches Schicksal zuteilwerden wie in der Zwischenkriegszeit, als demokratische Regierungen reihenweise rechten Diktaturen weichen mussten. Am Ende kamen die Nazis in Deutschland an die Macht und stürzten Europa und die Welt in einen verheerenden Krieg.

Der französische Präsident Emmanuel Macron warnte bereits vor fast sechs Jahren in einem Interview vor einem Erstarken der nationalistischen Bewegungen und einem Rückfall in die Zeit zwischen den Weltkriegen. Die Spaltung Europas durch Angst, die Rückkehr des Nationalismus und die Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise zeigten «fast systematisch alles, was Europa zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Krise 1929 gekennzeichnet hat», stellte er fest.

Wie berechtigt ist diese Befürchtung? Welche Parallelen und Unterschiede zwischen der aktuellen Lage und den 1920er- und 1930er-Jahren gibt es?

Rechtsruck damals und heute

Wenn wir die Erfolge der rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien der vergangenen Jahre mit der Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit vergleichen, zeigen sich zumindest an der Oberfläche einige Gemeinsamkeiten. Nach dem Ersten Weltkrieg waren in Europa zahlreiche Demokratien entstanden, von denen viele in den folgenden Jahren zusammenbrachen und durch autoritäre Regime ersetzt wurden. Die Liste, die diesen massiven Rechtsruck illustriert, ist beeindruckend, auch wenn hier nur die wichtigsten Fälle aufgeführt sind:

  • 1917, Russland: Oktoberrevolution; die Bolschewiki übernehmen die Macht und errichten eine kommunistische Diktatur. Es handelt sich um das einzige linke Regime, das über die Zwischenkriegszeit hinaus Bestand hat.
  • 1919, Ungarn: Nach der kurzlebigen kommunistischen Räterepublik wird die Monarchie wiederhergestellt; anstelle eines Monarchen regiert der autoritäre Reichsverweser Miklós Horthy.
  • 1922, Italien: Benito Mussolini und seine Faschistische Partei übernehmen die Macht.
  • 1926, Polen: Nach dem Maiputsch beherrscht Marschall Józef Pilsudski das Land in wechselnden Funktionen.
  • 1926, Portugal: Ein Militärputsch beendet die Republik und ebnet den Weg zum Ständestaat («Estado Nuevo») unter António de Oliveira Salazar.
  • 1933, Deutschland: Adolf Hitler wird zum Reichskanzler ernannt; die NSDAP errichtet danach eine Diktatur.
  • 1933, Österreich: Nach einem Staatsstreich regiert Bundeskanzler Engelbert Dollfuss diktatorisch mit Notverordnungen; 1934 wird das austrofaschistische Österreich zum Ständestaat.
  • 1936/39, Spanien: Mit dem Putsch von nationalistischen Militärs gegen die Zweite Republik beginnt 1936 der Spanische Bürgerkrieg. Nach dessen Ende 1939 wird General Francisco Franco Diktator auf Lebenszeit.

Auch in Staaten, die in der Zwischenkriegszeit demokratisch blieben, gab es zum Teil starke Kräfte am extremen rechten Rand des politischen Spektrums. In Frankreich scheiterte 1934 ein Aufstand von rechtsradikalen Gruppen nur knapp.

Rechtsaussen-Parteien im Aufwind

Der Aufwind, in dem sich rechtspopulistische und zum Teil rechtsradikale Parteien derzeit in Europa befinden, zeigt sich nicht nur beim Wahlerfolg der FPÖ in Österreich. Weitere Beispiele sind etwa die Partei Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni, die seit Oktober 2022 Ministerpräsidentin Italiens ist, oder die Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders in den Niederlanden. Sie wurde im November letzten Jahres stärkste Kraft bei den Parlamentswahlen und ist nun an der Regierung beteiligt – ebenso wie die Schwedendemokraten in Schweden und die Wahren Finnen in Finnland.

Schon seit 2010 regiert Viktor Orbán mit seiner Partei Fidesz durchgehend in Ungarn. Die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) wurde zwar Ende 2023 nach acht Jahren an der Macht in die Opposition verbannt, stellt aber die grösste Fraktion im Parlament. In Frankreich treibt das Rassemblement National (RN, ehedem Front National), das bei den letzten Wahlen am meisten Stimmen holte, die Regierung Macron vor sich her. Die Alternative für Deutschland (AfD) eilt zumindest in Ostdeutschland von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Und in der Schweiz ist die an der Regierung beteiligte SVP seit 1992 nach rechts gerückt und zur grössten Partei aufgestiegen.

Allerdings hat bisher keine der rechtspopulistischen Parteien, die Regierungsverantwortung übernehmen konnten, die Demokratie vollkommen ausgehebelt, wie dies in der Zwischenkriegszeit regelmässig geschah. Die Fidesz in Ungarn hat jedoch mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit die Befugnisse des Verfassungsgerichts beschnitten, ein repressives Mediengesetz erlassen und die Rechtsstaatlichkeit im Zuge des Umbaus zu einer explizit «illiberalen Demokratie» ausgehöhlt. Auch die PiS versuchte in Polen, Presse und Justiz zusehends unter ihre direkte Kontrolle zu bringen und deren Unabhängigkeit zu untergraben. Zu einer eigentlichen Diktatur hat sich jedoch weder Ungarn noch Polen entwickelt.

Zudem bilden die Rechtspopulisten in Europa keinen geschlossenen und homogenen Block. Dies wird etwa an den unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Vorstellungen deutlich: Die AfD vertritt beispielsweise eine klar neoliberale Wirtschaftspolitik, während das Rassemblement National sich deutlich weiter links positioniert. Neben protektionistischen Massnahmen fordert das RN auch höhere Löhne für Geringverdiener, will zugleich aber Sozialleistungen für Einwohner ohne Staatsbürgerschaft einschränken.

Ferner entzweit das Verhältnis zu Putins Russland die rechtspopulistischen Parteien: So sind etwa die Fidesz, die AfD oder das Rassemblement National eher russlandfreundlich, während die PiS oder die Fratelli d'Italia Front gegen Putins expansionistische Politik machen. Hingegen eint die Rechtspopulisten ihre durchgehende Ablehnung der Zuwanderung; in der Migrationspolitik vertreten sie allesamt ähnliche Konzepte, die sich lediglich in ihrer Radikalität unterscheiden.

Parallelen zur Zwischenkriegszeit

Vergleicht man die Situation im Europa der Zwischenkriegszeit mit der heutigen Lage, fallen einige Parallelen auf. Zunächst einmal springt ins Auge, dass damals wie heute eine komplexe Krisensituation herrschte, die jedoch unterschiedliche Gründe hatte – und zudem unterschiedlich virulent war.

Nach dem Ersten Weltkrieg litt Europa unter dessen Nachwirkungen, namentlich den inflationstreibenden Kriegsschulden, die Siegern wie Besiegten zu schaffen machten. Die tiefgreifende Wirtschaftskrise, die nach dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 begann, verursachte in den 1930er-Jahren auch in Europa massenhafte Arbeitslosigkeit. Die landwirtschaftliche Überproduktion der USA liess Bauern in Europa verarmen. Die aus den im Krieg untergegangenen Imperien entstandenen Staaten waren instabil, es kam zu ethnischen Säuberungen. Mehr als zehn Millionen Flüchtlinge irrten durch den Kontinent. Politische Extremisten bekämpften sich in Strassenschlachten. Die Polarisierung zwischen den politischen Lagern zerstörte jede vernünftige Diskussion.

Heute verunsichern die Klimaerwärmung, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sowie die Flüchtlingskrise die Menschen in Europa. Dazu gesellen sich diffuse Ängste, etwa vor Terroranschlägen, vor wirtschaftlichem Niedergang und Wohlstandsverlust oder vor den Folgen der digitalen Umwälzung – Stichwort Künstliche Intelligenz. Die Auswirkungen dieser Krisenlage dürften für die meisten Europäer, wenigstens ausserhalb des Kriegsgebiets in der Ukraine, weitaus weniger spürbar sein als jene, die ihren Urgrosseltern zu schaffen machten. Dennoch ist das Krisengefühl weit verbreitet – wohl auch, weil die aktuelle Lage vor dem Hintergrund einer vergleichsweise langen friedlichen Epoche in Europa wahrgenommen wird.

Eine Gemeinsamkeit in diesen Zeiten des erhöhten Krisenbewusstseins ist denn auch die Zunahme von Aversionen gegen bestimmte Gruppen – besonders gegen solche, die als fremd und bedrohlich empfunden werden. In der Zwischenkriegszeit richtete sich dies gegen Juden und Kommunisten. Antisemitismus und Antikommunismus gehörten zur DNA der rechtsradikalen Parteien und Bewegungen. Während unverhohlener Antisemitismus nach den Gräueln des Holocausts diskreditiert ist und sich gern als «Israelkritik» tarnt, werden mittlerweile vermehrt Muslime und Immigranten zum Sündenbock gestempelt.

Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der heutigen Situation und der Zeit zwischen den Weltkriegen liegt in den gesellschaftlichen Veränderungen, die einen Teil der Bevölkerung irritieren. Diese Veränderungen haben mit der Verschiebung von Werten, der Infragestellung von Althergebrachtem zu tun – sie berühren damit Fragen der Identität.

Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem das alte Europa unterging, waren autoritäre Modelle zunächst in breiten Kreisen delegitimiert. Die autoritär regierten Monarchien Mittel- und Osteuropas wurden zu Republiken. Überkommene Vorstellungen von Tapferkeit und Ehre hatten sich im industrialisierten Krieg als sinnlos erwiesen. Kunstströmungen wie der Dadaismus lehnten das Wertesystem ab, das dieses monströse Gemetzel auf den Schlachtfeldern Europas nicht verhindert hatte. Die Reformpädagogik, die sich schon vor dem Krieg gegen den Autoritarismus der «Pauk- und Drillschule» wandte, gewann nun weiter an Raum.

Diese Herausforderungen beantworteten die rechtsextremen Bewegungen in Europa mit einem Angebot, das zugleich die Rückkehr zu alten Werten wie den Aufbruch zu neuen Ufern versprach – oder wie es der Historiker Martin Broszat im Hinblick auf Hitler ausdrückte: Sie entsprach «dem gleichzeitigen Verlangen nach Kontinuität und Veränderung, das breite Schichten der Bevölkerung erfüllte». Auch bedeutende Teile der Jugend, insbesondere der studentischen, konnten sich für diese rechtsextremen Bewegungen begeistern – gerade auch wegen deren Irrationalität. «Man stirbt nicht für ein Programm, das man verstanden hat, man stirbt für ein Programm, das man liebt», sagte damals ein junger Nazi.

Die Gesellschaften im heutigen Europa haben sich, zum Teil in hohem Tempo, ebenfalls verändert. Während die Ehe für alle heute weitgehend unumstritten ist, erhitzen Diskussionen um Fleischkonsum contra Veganismus oder um die Zahl der Geschlechter zuverlässig die Gemüter. Auch hier bieten rechtspopulistische Parteien einem verunsicherten Publikum die Rückkehr zu herkömmlichen Werten an. Die etablierten gemässigten Parteien erleben derweil einen Vertrauensverlust und die Zahl der Menschen, die an deren Fähigkeit zweifeln, Lösungen zu finden, wächst. Auch dies ist eine Parallele zur Zwischenkriegszeit, als die Nazis den Reichstag als «Schwatzbude» verhöhnten.

Gewichtige Unterschiede

So zahlreich und augenfällig die Parallelen der heutigen Situation zur Zwischenkriegszeit auch sind, so gibt es doch gewichtige Unterschiede. Der wohl offensichtlichste liegt darin, dass Europa sich heute nicht in den Nachwehen eines Weltkriegs befindet, sondern im Gegenteil seit dem Zweiten Weltkrieg eine historisch ungewöhnlich lange Friedenszeit erlebt hat, die zwar von den Kriegen in Ex-Jugoslawien erschüttert wurde, aber erst mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ihr Ende fand.

Auch haben wir es heute nicht mit den Folgen des Zerfalls von Imperien zu tun – mit der gewichtigen Ausnahme Russlands, das den Untergang der Sowjetunion revidieren möchte. Ausserhalb des postsowjetischen Raums werden die Grenzen in Europa kaum mehr infrage gestellt, und ethnische Minderheiten versuchen ihre Rechte nicht gewaltsam durchzusetzen.

Die Folgen der Weltwirtschaftskrise lassen sich überdies keineswegs mit den heutigen wirtschaftlichen Problemen vergleichen: Es gibt in Europa nicht einmal in strukturschwachen Staaten eine Massenarbeitslosigkeit, die sich mit den Zuständen in den Dreissigerjahren vergleichen liesse. Dasselbe gilt für die Inflation, die heute niemals in einem solchen Ausmass Werte vernichtet, wie dies in der Hyperinflation der Weimarer Republik geschah.

Und schliesslich haben die Menschen in den meisten europäischen Staaten mittlerweile eine lange Erfahrung mit der liberalen Demokratie – jedenfalls bedeutend länger als es in den Staaten der Fall war, welche die Kaiserreiche Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland beerbten. Ob sie sich ihre politische Mitsprache einfach wegnehmen lassen werden, kann man bezweifeln.

veröffentlicht: 3. Oktober 2024 06:30
aktualisiert: 3. Oktober 2024 06:30
Quelle: watson

Anzeige
Anzeige