Am Montagabend fiel der erste Schnee in den Hügeln ausserhalb von Bihać. Abgemergelte Gestalten hausen im provisorischen Lager von Vučjak in undichten Zelten des Türkischen Roten Halbmonds auf einer Mülldeponie wenige Kilometer oberhalb der nordwestbosnischen Stadt Bihać in Sichtweite der kroatischen Grenze.
Weil diese eine EU-Aussengrenze markiert, sind die Migranten hierher gekommen. Anfang Dezember sind es etwa 600 zumeist Afghanen, Pakistaner und einige Syrer und Inder - alles Männer, auch vereinzelt Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren. Die meisten leiden unter der Hautkrankheit Krätze.
Auf den Strassen nach Kroatien mühen sich im strömenden Regen immer wieder einzelne junge Männer oder kleine Gruppen, und in Hütten hausen auf feuchten Matratzen junge Eltern mit Kleinkindern. Pakistaner, Inder, Syrer und Iraker sind anzutreffen, auch Algerier und Marokkaner - teilweise seit Jahren unterwegs von Griechenland über Albanien und Nordmazedonien nach Serbien und schliesslich nach Bosnien-Herzegowina.
Sie alle wollen in die Europäische Union, die meisten nach Deutschland, Frankreich oder Italien. Kroatien ist zwar ein EU-Mitgliedsland, aber erst dessen Nachbarland Slowenien gehört zum Schengen-Raum. Dorthin zu gelangen, ist das erste Ziel.
So schnell will keiner aufgeben
Manche geben auch nach einem Dutzend oder mehr erfolglosen Versuchen nicht auf, selbst wenn sie barfuss und durch den eiskalten Grenzfluss immer wieder zurück geschickt werden. Sie nennen es «Game» - ihre in Gruppen organisierten heimlichen Grenzübertrittsversuche durch den «Dschungel». Denn eines wollen sie auf keinen Fall: in ihre alte Heimat zurück.
Ein Übertritt ist allerdings auch deshalb schwieriger geworden, weil die kroatische Grenzpolizei mit Drohnenüberwachung und Wärmebildkameras arbeitet.
Aus den eng beieinander stehenden löchrigen Hütten im provisorisch vor einem Dreivierteljahr errichteten Camp Vučjak dringt beissender Rauch nach aussen. Entweder versuchen sich die durchnässten und schlotternden Männer an einem Feuerchen zu wärmen, oder sie kochen etwas aus den Lebensmittelbeuteln, die sie von den mobilen Teams Roten Kreuzes erhalten haben.
Schliessung des Camps gefordert
Beim Besuch der Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, im Flüchtlingslager Vućjak kam es am Dienstag zu Protesten. Die etwa 600 Bewohner forderten angesichts des einsetzenden Schneefalls, das Lager verlassen zu dürfen.
Die Verhältnisse seien inakzeptabel, sagte Mijatović am Dienstag. Wenn das überfüllte Lager nicht vor dem Winter geschlossen werde, könne es im äussersten Falle Tote geben. Man wolle es nicht so weit kommen lassen wie in Griechenland. Sie rufe die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf.
Vom Provisorium zum Schandfleck
Eigentlich sollte das Provisorium Vučjak bald wieder verschwinden. Die Behörden in Bihać hatten auf Hilfe von der EU gehofft, aber diese weigert sich. Die jungen Männer sollten von der Strasse geholt und besser unter Kontrolle gehalten werden, da sich Unmut in der Bevölkerung geregt hatte. Es soll zu Diebstählen und Einbrüchen gekommen sein.
Am Thema Migration und Flüchtlinge will sich derzeit kein Politiker in Bosnien-Herzegowina die Finger verbrennen. Im nächsten Herbst sind nämlich Lokalwahlen, und die Angelegenheit ist sensibel, das Thema kann Stimmen kosten. Schliesslich wächst die Fremdenfeindlichkeit in dem kleinen, armen Land.
Von sieben auf elf mobile Rotkreuz-Teams
Die Aufnahmezentren in Bosnien-Herzegowina werden von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), einer Uno-Unterorganisation, geführt. Sieben mobile Rotkreuz-Teams aus lokalen Mitarbeitern leisten derzeit Nothilfe - seit Jahren für Bedürftige in der Region und seit dem Frühjahr 2018 zunehmend für Migranten und Flüchtlinge.
Die Hilfe besteht aus warmen Mahlzeiten, Kleidern, Decken und Schlafsäcken. Oft sind aber auch psychologische Hilfe, spontanes Mitgefühl und Trost gefragt - eine Arbeit, die den Helferinnen spürbar an die Nieren geht. Zum Beispiel, wenn die Polizei spätabends Linienbusse aus Sarajevo oder Tuzla vor Bihać stoppt, um Migranten herauszuholen und sie zurückzuschicken.
Aus den sieben mobilen Teams sollen mit Unterstützung des SRK bald elf werden, wie Mihela Hinić, Länderkoordinatorin des Schweizerischen Roten Kreuzes in Bosnien-Herzegowina, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA in Bihać sagt. Das bosnische Rote Kreuz arbeitet ausserdem in sechs Aufnahmezentren für Flüchtlinge und Migranten. Das alles kostet Geld.
Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) hat deshalb einen Aufruf lanciert, um 3,3 Millionen Franken zu sammeln zur Versorgung von rund 7600 Migranten und 1500 lokalen Gast-Haushalten in Bosnien-Herzegowina. Zusammengekommen sind bislang 1,3 Millionen Franken.
Brutale kroatische Grenzpolizei
Viele Migranten und Flüchtlinge werden von den kroatischen Grenzpatrouillen aufgegriffen und nach Bosnien zurückgeschickt. Sie berichten davon, wie sie geschlagen wurden, wie ihnen die kroatischen Beamten Kleider, Schuhe, Geld und Handys weggenommen haben. Es soll auch auf sie geschossen worden sein.
Das brutale Vorgehen wurde unter anderem von Amnesty International dokumentiert. Dagegen etwas unternommen hat bislang noch keine Seite.
Seit den stark gewachsenen Migranten- und Flüchtlingsbewegungen des Jahres 2015 durch die Balkanländer und der daraufhin von Ungarn geschlossenen Grenze zu Serbien hatte Österreich 2016 die Schliessung der so genannten Balkanroute vorangetrieben. Slowenien hatte nachgezogen, übrig blieb Kroatien mit seiner 900 Kilometer langen Grenze zu Bosnien-Herzegowina.
Immer mehr Migranten nahmen in der Folge ihren Weg durch dieses kleine Land mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern. Seit Anfang 2018 haben Schätzungen zufolge etwa 47'000 Flüchtlinge und Migranten die Grenzen passiert; konstant halten sich rund 7000 in Bosnien-Herzegowina auf.