Ostschweiz

Kantonsspital St.Gallen: «Wir haben keine Geimpften auf der Intensivstation»

Kantonsspital St.Gallen

St.Galler Intensivpfleger: «Wir haben keine Geimpften auf der Intensivstation»

· Online seit 20.12.2021, 07:26 Uhr
Gerald M. ist Intensivpfleger am Kantonsspital St.Gallen. Von den verfügbaren Intensivplätzen auf der medizinischen Intensivstation, waren letzte Woche alle mit ungeimpften Coronapatienten belegt. Im Interview erzählt der 39-Jährige wie er mit der immensen Arbeitsbelastung umgeht, und wie sich die Situation im Vergleich zum Vorjahr verändert hat.
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«Ich hatte einen anstrengenden Frühdienst. Hoffentlich sage ich noch etwas Schlaues.» Gerald M. ist während des Interviews auf dem Nachhauseweg. Frische Luft tue ihm gut, deshalb laufe er einen Teil des Weges. Der 39-jährige Rheintaler arbeitet seit über 15 Jahren auf verschiedenen Intensivstationen und ist derzeit Intensivpfleger und Ausbildner am Kantonsspital St.Gallen. Bereits vergangenes Jahr durften wir mit ihm über die Corona-Situation sprechen.

Gerald Meyer, vor rund einem Jahr haben wir bereits mit Ihnen über die hohe Auslastung der Intensivstationen gesprochen. Jetzt stehen wir vor einer ähnlichen Situation – wie unterscheidet sich die aktuelle Lage von der vor einem Jahr?  

Das Bittere ist: Die Lage ist exakt dieselbe. Bis auf die Tatsache, dass wir bedeutend mehr junge Corona-Patienten haben. Die ältesten sind derzeit Mitte 60 und die jüngsten jünger als ich. Das sind Leute, die eine sehr komplexe, aufwändige Therapie benötigen und von Beatmungsgeräten abhängig sind.

Das Zweite, das sich geändert hat: Es ist weniger Personal da. Unser Team ist so krass geschrumpft, dass wir der Arbeitsbelastung kaum standhalten können. Viele haben relativ frisch nach der Ausbildung die Station wieder verlassen und sich umorientiert. Noch immer ist die Solidarität innerhalb des Hauses da, aber zum einen sind alle im eigenen Arbeitsumfeld voll ausgelastet und zum anderen können sie kein ausgebildetes Intensivstation-Personal ersetzen.

Wurde durch diese Abgänge die Arbeitsbelastung für die Verbliebenen noch höher?

Ja, die Arbeitsbelastung ist deutlich gestiegen und damit auch die Verantwortung der Experten der Intensivpflege am Patientenbett. Wenn wir Patienten verlegen, haben wir in kürzester Zeit schon den nächsten da. Das frisst Nerven.

Im Kanton St.Gallen ist der Anteil an Covid-Patienten auf den Intensivstationen gemäss akutellen Zahlen des BAG schweizweit am höchsten und liegt bei rund 60 Prozent. Sonst sind es im Schnitt um die 30 Prozent Covid-Patienten. Wie können Sie sich das erklären?

Es ist relativ simpel, die Impfrate in der Schweiz korreliert recht gut mit der Anzahl Schwererkrankter. Als ich vor den Abstimmungen im Appenzellerland unterwegs war und alle fünf Meter ein Nein-Plakat zum Covid-Gesetz gesehen habe, bin ich schier vom Glauben abgefallen. Es ist schräg. Jeden Tag schuften wir wie verrückt und dann lesen und hören wir so viel Unsinn. Wir haben im Moment keinen einzigen geimpften Patienten auf unserer Station. Insgesamt liegt der Anteil der ungeimpften Covid-Patienten während der letzten Wochen auf unserer Intensivstation bei über 90 Prozent.

Hat das Unverständnis gegenüber jenen, die sich nicht impfen lassen wollen, zugenommen?

Das ist definitiv so, weil man selbst weniger Nerven und persönliche Ressourcen hat. Man ist aufgebraucht. Am Anfang konnte ich besser damit umgehen, wenn es aber immer wieder dasselbe ist, geht einem irgendwann die Geduld aus. Natürlich betreue ich alle Leute gleich und auf demselben Level, aber es ist ganz viel Unverständnis vorhanden. Ich kann nicht nachvollziehen, warum Menschen sich nicht impfen lassen wollen. Es gibt keine besser überwachte Impfung. Die Effekte sind bewiesen. Wie kann die Impfrate trotzdem so schlecht sein?

Wir sehen im Moment viele Junge, die heftige Verläufe haben, die beatmet werden müssen und das ist nur die akute Phase. Die ganze Reha kann auch sehr lange dauern.

Was auf einen Corona-Patienten nach der Intensivstation alles zukommt, erzählte der erste St.Galler Coronapatient aus dem Toggenburg in einem Interview.

Gibt es ungeimpfte Corona-Patienten, die aufgrund ihres Aufenthalts auf der Intensivstation ihre Einstellung ändern?

Das kommt schon vor. Manchmal kontaktieren sie ihre Verwandten und vereinbaren, sich alle impfen zu lassen. Das haben wir auch schon erlebt. Es kam aber auch schon vor, dass eine Person bei uns auf der Intensivstation war und die Familienangehörigen dennoch der Meinung waren, dass eine Impfung wenig sinnvoll ist. Dieses Unverständnis macht es absolut schwer.

Ist es die körperliche oder die psychische Belastung, die die Arbeit derzeit besonders anstrengend macht? 

Es ist eine Kombination aus beidem. Es sind die 9-Stunden-Schichten in denen man die ganze Zeit auf den Beinen ist und dazu kommt, dass man sich wahnsinnig konzentrieren muss und der psychische Stress. Ich könnte mich auf Tonband aufnehmen, es wiederholt sich alles immer wieder und die Erholung fehlt. Jeder von uns hätte gerne mehr Freizeit. Ich habe schon von vielen gehört, dass sie nach der Arbeit platt und müde sind. Wenn man dann ein paar freie Tage hat, will man einfach nichts mehr tun. Es ist wichtig, sich aufzuraffen und gut auf sich selbst aufzupassen.

Ich kann mir vorstellen, dass die Dauerhaftigkeit der Pandemie, dieses «es hört nicht mehr auf» sehr belastend ist. Haben Sie selbst schon darüber nachgedacht, aufzuhören?

Ich glaube, dieser Gedanke geht vielen durch den Kopf, die in diesem Bereich arbeiten. Diese Dauerbelastung ist sehr anstrengend und auch wenn es sehr komplexe Situationen sind, gleichen sie sich leider oft sehr und somit geht ein Teil der Vielseitigkeit des Berufs verloren. Gerade als Ausbildner ist es manchmal schwer, den Auszubildenden gerecht zu werden, weil es in der Schicht nur darum geht, die irgendwie «hinzukriegen». Dennoch geben wir unser Bestes, um weiterhin den Fokus darauf legen zu können, auch neues Personal auszubilden und unsere Studierenden in ihrer Weiterbildung zu unterstützen.

Was hält Sie dennoch auf der Intensivstation?

Das tolle Team. Es sind alle sehr professionell und es ist unter dem Strich immer noch ein sehr interessanter, vielseitiger Job. Es ist bestimmt wichtig, dass die Bedingungen für das Pflegepersonal besser werden.

Dabei könnte die Pflegeinitiative helfen, die im Herbst angenommen wurde.

Es war ein wichtiger Schritt, um die Rahmenbedingungen des Berufes interessanter zu gestalten. Was da rauskommt und wie lange es geht, bis sich etwas ändert, ist allerdings unklar. Aktuell ändert sich noch nicht schrecklich viel.

Was würden Sie sich vom Bundesrat für weitere Schritte wünschen?

Ich glaube, was der Bundesrat tut, ist nicht grundverkehrt. Zugegebenermassen verfolge ich aber auch nicht alles, da ich während der Arbeit genug mit dem Thema konfrontiert bin. Eigentlich wären alle Voraussetzungen gegeben, um die Ansteckungszahlen zu senken. Sie müssen nur gebraucht und eingehalten werden. Wenn ich im ÖV Menschen sehe, die immer noch keine Maske tragen, dann stelle ich manchmal die Gesellschaft infrage. Es sind simple Sachen, die viel ausmachen. Wären die Vorgaben schon früher durchgezogen worden, würden wir heute ganz woanders stehen.

veröffentlicht: 20. Dezember 2021 07:26
aktualisiert: 20. Dezember 2021 07:26
Quelle: FM1Today

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