Quelle: FM1Today/Noah Hartmann
Die Zimmer in der Altbauwohnung sehen einladend aus. Grosse Fenster und der Stuck an der Decke sorgen für eine wohlige Atmosphäre. In der Wohnung an der Lämmlisbrunnenstrasse in St.Gallen treffen sich Menschen in Selbsthilfegruppen. Ein Angebot, das seit der Corona-Pandemie einen Boom erlebt.
Redebedürfnis gross während der Pandemie
«Wir stellen fest, dass die Leute beispielsweise wieder mehr über Alkohol reden wollen», sagt die Leiterin der Selbsthilfegruppe St.Gallen und Appenzell, Pamela Städler. In der Ostschweiz organisiert sie über 200 Selbsthilfegruppen zu verschiedensten Themen. Laut Pamela Städler steigt während der Pandemie das Redebedürfnis: «Neu gegründete Selbsthilfegruppen sind sofort vollständig besetzt.»
Neue Selbsthilfegruppe für junge Erwachsene
Das neue Jahr beginnt für die Organisation mit einer Neugründung: «Wir starten am 25. Januar eine neue Selbsthilfegruppe für junge Menschen, die bereits mit psychischen Belastungen Erfahrungen gemacht haben», sagt Pamela Städler. Die Gruppe richtet sich an Menschen zwischen achtzehn und fünfunddreissig Jahren, die sich gerne austauschen und über das Erlebte sprechen wollen.
Gerade für Jugendliche mit psychischen Problemen sind Hilfsangebote seit Monaten vollständig überlastet. Bereits im Juli verzeichneten das Kinderspital St.Gallen und die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St.Gallen (KJPD St.Gallen) 30 Prozent mehr Patientinnen und Patienten. Je nach Schweregrad der Krise können vier bis sechs Monate vergehen, bis ein Therapieplatz für sie frei wird. Trotzdem betont die Sozialarbeiterin: «Selbsthilfegruppe ist kein Ersatz für eine Therapie. Je nach Problem sollte man sich zusätzlich eine therapeutische oder medizinische Begleitung organisieren.»
«Geteiltes Leid ist halbes Leid»
Das Angebot an Selbsthilfegruppen in der Ostschweiz ist gross – mehr als hundert Themen, wie zum Beispiel Autismus, Demenz oder den Verlust eines Angehörigen. «In unseren Gruppen kann man über das Erlebte sprechen oder einfach zuhören. Dann stellt man schnell fest, dass die Anderen viele Dinge ähnlich erleben», sagt die Sozialarbeiterin. Die Selbsthilfegruppe funktioniert frei nach dem Prinzip «geteiltes Leid ist halbes Leid.»
Erfolgserlebnisse geben Ansporn
Pamela Städler ist seit mehr als zehn Jahren an der Selbsthilfegruppe St.Gallen und Appenzell beteiligt. Besonderer Ansporn für ihre Arbeit findet die ausgebildete Sozialarbeiterin in den Erfolgsgeschichten. «Wir hatten zum Beispiel mal eine Gruppe, die traf sich zum Thema Angst. Viele Teilnehmende waren so blockiert, sie konnten nicht Lift oder Bus fahren», erzählt Pamela Städler.
In der Gruppe entstand mit der Zeit grosses Vertrauen und die Mitglieder stellten sich ihrer Angst. «Zusammen fuhren wir dann Bus oder Lift. Zuerst nur ein Stock oder nur eine Station. Diese Übung hat ganz viel für diese Menschen verändert», sagt die Leiterin der Selbsthilfegruppe St.Gallen und Appenzell. «Schön ist ja, dass wir nur Zeit und Raum zur Verfügung stellen. Alles andere machen diese Menschen selber.»