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Pensionierter Thurgauer Lehrer packt aus: Darum hält der Lehrpersonenmangel an

Thurgau

Immer härterer Job, immer weniger Leute – ein pensionierter Lehrer packt aus

23.08.2023, 08:20 Uhr
· Online seit 23.08.2023, 06:01 Uhr
Der Fachkräftemangel in den Schulen ist in aller Munde. FM1Today hat einen frisch pensionierten Lehrer und Schulleiter getroffen und mit ihm über seine Erfahrungen und mögliche Lösungen gesprochen.

Quelle: FM1Today / Cynthia Sieber / Jessica Kappeler

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«Was in den letzten 20 Jahren auf unsere Schulen zugekommen ist, kann mit einem mittleren Erdbeben verglichen werden», sagt Hans-Ulrich Giger, der 40 Jahre an der Sekundarschule Grenzstrasse Amriswil unterrichtet hat.

Es sei unglaublich, wie viele Entwicklungen und Veränderungen es während seiner Zeit gegeben habe. Giger hat zuerst 22 Jahre lang als Klassenlehrperson im Bereich Mathematik, Naturwissenschaften und Sport unterrichtet, ab 2005 übernahm er die Schulleitung an der selben Schule – nun geniesst er seinen Ruhestand.

«Es wird immer öfters erwartet, dass Schulen familienergänzende Aufgaben übernehmen. Die Familiensysteme sind nicht mehr so stabil wie noch vor 40 Jahren», so Giger. Die Schulen hätten viel mehr mit Schülerinnen und Schülern zu tun, die psychosomatisch belastet seien. «Oft liegen die Gründe dafür aber nicht bei den Schulen, sondern in der Familie – und die Schule muss schlussendlich damit umgehen können.»

Giger sagt, dass auch die Migration ein grosses Thema sei: «Wir haben laufend Eintritte von Schülerinnen und Schülern, die kein Wort Deutsch sprechen – diese sollten aber wie ihre Gspänli ebenfalls eine Lehrstelle finden. Das ist eine grosse Aufgabe.» Diese beiden Themen seien nur zwei Beispiele von vielen. «Unter dem Strich kann man sagen: Die Volksschulen und Lehrpersonen sind nur noch im Reaktionsmodus, der Unterricht wird zur Nebensache.»

Unterrichten nicht als Hauptaufgabe

Weiter findet der ehemalige Schulleiter, dass zu viele Lehrpersonen in einem tiefen Pensum arbeiten: «Es wird schwierig, wenn viele Personen unter 50 Prozent arbeiten. Denn trotz Rekordzahlen an den Pädagogischen Hochschulen bleibt der Lehrpersonenmangel.»

Die ausgebildeten Lehrpersonen würden nach der Ausbildung merken, dass das Unterrichten nicht die Hauptaufgabe sei – dies bewirke Pensenreduktionen oder Abgänge. «Wir müssen dafür sorgen, dass die Lehrpersonen ihr Pensum hochhalten und zufrieden ihren Job erledigen können», sagt Giger und ergänzt: «Dafür brauchen die Lehrpersonen ein gutes Team und eine Schulleitung, die sich bewusst ist, dass das Team das Herz der Schule ist.»

Die Schulleitung solle sich primär auf das Team konzentrieren und dafür sorgen, dass es diesem gut geht. So sollen Weiterbildungen ermöglicht und gute Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Attraktivität des Berufs steigern

Auch der Handlungsspielraum für Lehrpersonen sollte laut Giger verbessert werden: «Sie sollten während der 40 Schulwochen zwei bis drei Tage frei nehmen können. Denn auch Lehrpersonen haben ein Privatleben und möchten vielleicht einmal mit ihrem Verein eine Reise unternehmen, die bereits am Donnerstag startet. Das würde die Attraktivität des Berufs steigern.» Oftmals könne man nur unbezahlt einen Tag frei nehmen – was vielen Lehrpersonen schlichtweg finanziell nicht möglich sei.

«Im Schulwesen finden viele Evaluationen statt – vielleicht zu viele», findet Giger. Diese sorgen laut dem Thurgauer für eine hohe Zufriedenheit bei den Schülerinnen und Schülern, den Eltern und Lehrpersonen, aber: «Man muss die Zufriedenheit ernst nehmen und sagen ‹Gut ist genug› und nicht immer mehr verlangen.»

Viele Schulen würden einen guten Job machen, doch man solle merken, wenn es genug ist und nicht immer noch mehr Projekte starten. «Runterfahren und Lehrpersonen in Ruhe ihren guten Job fortsetzen lassen», so Giger, der während seiner Schulleiterzeit auch als Mathematik-Lehrer gearbeitet hat.

Ausserdem habe er die Idee gehabt, dass PH-Studierende während ihres Studiums für ein Jahr ein Praktikum in einer Schule absolvieren sollten. «In diesem Jahr würden sie die Schule und die Praxis richtig kennenlernen und die Stimmung wahrnehmen. Das wäre bestimmt nachhaltiger als die mehrwöchigen Praktika.» Auch könnten so krankheitsbedingte Ausfälle von Lehrpersonen überbrückt werden. Denn an grossen Schulen gebe es jede Woche solche Ausfälle.

Schöne Erinnerungen aus Schulzeit

Wenn Giger zurückblickt, gab es viele Momente, die schön waren. Eine Situation bleibt ihm jedoch sehr gut in Erinnerung: «Wenn sich Schülerinnen und Schüler im Schulzimmer und im Unterricht wohlfühlten, fand ich das besonders schön.» Wenn man als Lehrperson dann auch noch merke, dass ein Lernerfolg da ist, sei das eine schöne Bestätigung.

Als Schulleiter fand er es immer toll, wenn das Team am Ende des Jahres konstant blieb. «Natürlich gibt es Pensionierungen, wie jetzt in meinem Fall. Aber die Konstanz ist die schönste Rückmeldung als Schulleiter – und wichtig für eine nachhaltige Schulkultur.»

Doch zuerst werde er jetzt eine mehrwöchige Pause einlegen und in die Ferien fliegen. Nach den Herbstferien sei er wieder offen: «Gerne würde ich meine Erfahrungen weiterhin im Bildungssystem einbringen – vielleicht als Schulleiter, Berater oder Coach.» Wenn er unterrichten würde, dann nur Mathematik; das sei schon immer sein Lieblingsfach gewesen.

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veröffentlicht: 23. August 2023 06:01
aktualisiert: 23. August 2023 08:20
Quelle: FM1Today

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