«Am Bahnhof Zürich Flughafen wurden ein jüdischer Mann und eine jüdische Frau mit Boxschlägen attackiert. Und ein jüdischer Mann, der eine Kette mit Davidstern trug, wurde von zwei Jugendlichen angegangen. Sie haben ihm auf die Füsse gespuckt und ‹Free Palestine› geschrien», sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG.
Das sind nur zwei der Beispiele für antisemitische Vorfälle. Diese haben in der Deutschschweiz stark zugenommen. Solche Tätlichkeiten kämen normalerweise selten vor, vielleicht einmal pro Jahr – in den letzten Wochen kam es deren vier. «Das ist eine massive Häufung und wurde so auch von uns noch nie gesehen. Das macht uns grosse Sorgen.» Es sei zentral, dass die Emotionen des Konflikts nicht auf die Schweiz übertragen werden. Doch die Stimmung verschärft sich, die Vorfälle nehmen zu.
Laut der SIG-Meldestelle wurden seit dem 7. Oktober (Tag des Angriffs der Hamas auf Israel, Anm. d. Red.) bis zum 1. November 41 Vorfälle registriert. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2022 waren es 57. Dazu gehören nicht nur physische Angriffe auf Personen, sondern auch Beschimpfungen, Schmierereien und «höchst hasserfüllte Zuschriften», also E-Mails und Briefe. So wurde die Zürcher Kantonsrätin Sonja Rueff-Frenkel mit «Scheiss Jude» beschimpft, eine andere Person mit der Aussage «Die Juden haben es nicht anders verdient».
Keine harmlose Parole: «From the river to the sea»
Auch an Pro-Palästina-Kundgebungen in der ganzen Schweiz kommt es vermehrt zu antisemitischen Vorfällen. «Was allen grösseren Demos bisher gemeinsam war, war die Parole ‹From the river to the sea›. Diese ist nicht harmlos», sagt Kreutner. In Basel wurde sie sogar auf das Frontbanner geschrieben.
Er erklärt, dass bei der Parole von einem freien palästinensischen Gebiet zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer gesprochen werde. «Gemeint ist aber ein Gebiet ohne jüdisches Leben und ohne israelischen Staat. Das ist reine Hamas-Propaganda», hält Kreutner klar fest. Man habe hier Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, diese gelte für jede und jeden. Antisemitische Slogans und Gewaltaufrufe würden damit aber nicht legitimiert, sagt der SIG-Generalsekretär. Im Gegenteil. «Hier erwarte ich mehr von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die solche Ausfälle nicht mittragen wollen.»
Auch Hitler-Vergleiche wurden beispielsweise an Demonstrationen in Zürich gesehen, so der SIG-Generalsekretär. Laut der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus ist auch mit dem Slogan «Intifada bis zum Sieg» demonstriert worden.
Eskalation an nationaler Demo in Bern zu erwarten?
Am Samstag findet in Bern eine nationale Pro-Palästina-Kundgebung statt. In Frankreich und Deutschland war es bei Kundgebungen zu Krawallen und Auseinandersetzungen gekommen, die Stimmung ist angespannt. Die amerikanische Botschaft warnte über soziale Medien, dass man das Gebiet der Demonstration vom Samstag meiden solle.
— U.S. Embassy Bern (@USEmbassyBern) November 3, 2023
Kommt es auch in Bern zu Ausschreitungen? «Nein, das ist kaum vorstellbar», sagt Kreutner. Die hiesigen Verhältnisse seien ganz anders. «Aber das ist wirklich nicht in Stein gemeisselt.» Der steigende Antisemitismus und die spürbar aufgeheizte Stimmung seien jedoch in der Schweiz so auch noch nicht dagewesen.
Pro Palästina heisst aber nicht zwingend antisemitisch. «Man kann pro Palästina sein, das muss überhaupt nicht antisemitisch sein», sagt Kreutner. Wenn damit aber verbunden werde, dass die jüdische Bevölkerung vertrieben oder der israelische Staat vernichtet werden solle, «dann ist das erschreckend antisemitisch».
Das sagt auch Stephanie Graetz, Geschäftleiterin der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (gra): «Kritik an der Politik Israel ist nicht per se antisemitisch.» Aber werde sie genutzt, um eine Rechtfertigung zu haben, dass jüdische Personen damit abgewertet werden, dann sei das antisemitisch.
«Gemeinschaft hat gewaltigen Schock erlebt»
«Wenn grosse Demonstrationen durch Städte mit jüdischen Gemeinden ziehen und dort antisemitische Parolen und Gewaltaufrufe gar zelebriert werden, ist das zutiefst erschreckend», betont Kreutner. «Die Gemeinschaft hat einen gewaltigen Schock erlebt», sagt der SIG-Generalsekretär. Viele Jüdinnen und Juden hier hätten Familie und Freunde in Israel.
Man habe sich grosse Sorgen gemacht. «Die Stimmung kippt jetzt aber auch nach Europa hinüber, der Antisemitismus nimmt zu, die Sicherheitslage verschlechtert sich, das bekommen alle mit. Viele sind verunsichert, einige haben Angst.»
Vorfälle sind laut SIG vor allem dort zu verzeichnen, wo es jüdische Menschen – also jüdische Gemeinden oder Institutionen gebe. «Je grösser diese Gemeinschaften sind, desto mehr Vorfälle, so die einfache und traurige Rechnung.» Damit ist laut Kreutner insbesondere Zürich, aber auch Basel und etwas weniger Bern betroffen.
Graetz von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus sagt dazu: «Eine Befürchtung ist sicher, dass der Antisemitismus salonfähig werden könnte.» Alle seien mitverantwortlich, dass das sicher nicht der Fall werde.
Auch der Muslimische Verein Bern setzt sich dafür ein. Auf Anfrage teilt er mit: «Der Muslimische Verein in Bern tritt jeder Form von Antisemitismus entschieden entgegen. Es ist uns wichtig, diese klare Haltung nicht nur nach aussen zu vertreten, sondern auch nach innen in unserer eigenen Gemeinschaft.» Er schreibt weiter: «Dass unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger Angst haben müssen, auf öffentlichen Plätzen ihre jüdische Herkunft zu zeigen oder gar ihre Kinder nicht zur Schule schicken, aus Angst, dass ihren Kindern dort antisemitisch motivierte Gewalt geschieht, darf niemals zur Normalität werden!»